Wasted-Hour-Gründer: ‘Männer müssen lernen, dass es nichts Beschämendes ist, sich an der Damenmode zu bedienen’
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Erst ein digitales Magazin, dann ein Online-Shop und schließlich ein stationärer Laden: Der bisherige Werdegang des Hamburger Concept-Stores Wasted Hour ist ungefähr so vielfältig wie der seines Gründers Martin Hufnagel. Als Jura-Absolvent mit einem Penchant für Mode, Kultur und Musik trägt Hufnagel mehrere Hüte gleichzeitig – von Gründer, über Einkäufer hin zu DJ – und das alles, während er den Hanseaten das Konzept der geschlechterübergreifenden Mode näher bringt.
In seiner Kommunikation scheut der Concept-Store das Wort „genderless“, – das Profil von Wasted Hour auf dem sozialen Netzwerk Instagram beschreibt das Sortiment stattdessen als „special, selected & sustainable“. Diejenigen, die beim Betreten des Ladens jedoch eine herkömmliche Damen- und Herrenabteilung erwarten, werden dennoch eine Überraschung erleben, denn eine klassische Unterteilung nach Geschlechtern sucht man am Neuen Wall in Hamburg vergeblich.
Warum sich Hufnagel gegen einen „traditionellen“ Laden entschied, warum er seine eigene Entscheidung rückblickend als „etwas naiv“ bezeichnet und wieso die Geschlechterverteilung im E-Commerce dann doch wieder eine Rolle spielt, verriet er im Interview mit FashionUnited.
Mode wird immer fluider, doch bislang ist eine Aufteilung nach Geschlechtern sowohl auf den meisten Laufstegen als auch in den Läden noch der Standard. Warum haben Sie sich dagegen entschieden?
Für mich hat die Unterteilung nach Geschlechtern noch nie viel Sinn ergeben. Es wird auf einigen Runways in der Zwischenzeit Womenswear und Menswear gemeinsam gezeigt; Unterscheidungen sind lange nicht mehr so stark ausgeprägt, wie es einst war. Die Eigenverantwortung liegt wieder bei den Konsument:innen, denn sie können entscheiden, von welchen Stücken sie sich angezogen fühlen, unabhängig von einem Label oder einer entsprechenden Abteilung. Es gibt dadurch viel Raum für Interpretation auf Kund:innenseite.
Klar gibt es Brands oder auch spezielle Teile innerhalb von Kollektionen, die eher weiblich gelesen sind, manche eher männlich, doch auch das weicht langsam auf. Man sieht bei immer mehr Brands, dass sie jetzt langsam auch „Double-Sizing“ anbieten.
Kund:innen erlangen Raum für Interpretation, doch was bedeutet die Zusammenlegung der Geschlechter für Sie als Einkäufer?
Ganz pragmatisch aus der Buyer:innen-Perspektive ist es relativ simpel, je mehr Fashion Weeks im Jahr, umso anstrengender. Wenn es die Unterteilung nach Menswear und Womenswear auf einmal gar nicht mehr geben sollte, begrüße ich das alleine schon aus logistischen Gründen – aber natürlich auch im modischen Sinn.
Logistisch mag es einfacher sein, doch wie reagieren die Kund:innen bei Ihnen im Store?
Die Zeit hat gezeigt, dass Kundinnen sich darüber weniger wundern, doch die männlichen Kunden suchen sehr wohl noch nach „ihrer“ Abteilung. Das liegt auch daran, dass wir, da wir lange Zeit lediglich online tätig waren und wenig „klassisches“, also etwa Anzüge, verkauft haben, da diese online ein Albtraum zum Verkaufen sind. Deswegen gibt es eben nicht einfach drei Puppen mit Anzügen, die den Herren als Signal dienen könnten.
Was sich aber auch gezeigt hat ist, dass sobald man den Kunden dann ein Stück präsentiert, dass als männlich gelesen wird, auch die Offenheit besteht, weiter durch den Store zu schauen. Es braucht bei den männlichen Kunden aber auf jeden Fall noch mehr Aufklärungsarbeit, etwas mehr „schubsen“ und die Absicherung, dass sie nichts falsch machen können.
Warum fällt es Männern so schwer, die vermeintliche „Grenze“ zur Damenmode zu überschreiten?
Man darf nicht vergessen, dass Frauen bereits seit Langem suggeriert wird, dass das Tragen von Herrenmode cool ist. Die Idee, dass eine Frau sich etwas aus dem Kleiderschrank des Freundes leiht, ist schon ewig ein Trend. Die Boyfriend-Jeans gibt es schon immer, die Girlfriend-Jeans gibt es nicht. Es ist deutlich schwieriger, jetzt den Männern zu erklären, dass es weder etwas Beschämendes noch etwas Falsches ist, sich an der Mode der Damen zu bedienen.
Und doch gibt es online noch eine klare Unterteilung, warum?
Der erste Klick ist auf einer jeden Internetseite immer die Wahl nach dem Geschlecht. Wenn wir diese Auswahl entfernen würden, würden wir uns am Ende selbst ins Bein schießen. Im E-Commerce gibt es leider Regeln, an die wir uns halten müssen, und dennoch shooten wir alle Produkte doppelt und zeigen sie in der Ansicht nebeneinander, sowohl an Männern als auch an Frauen. Online haben wir bedauerlicherweise nicht die Möglichkeit, unser Konzept verbal zu erklären, durch die doppelte Ansicht wird es dennoch verdeutlicht.
Als Magazin gibt es Wasted Hour schon eine Weile, doch der Laden steckt vergleichsweise noch in den Kinderschuhen. Sie haben das Konzept in der Pandemie mit einem Pop-up getestet, dann folgte erst die Eröffnung der permanenten Ladenfläche
Genau, wir hatten zwei Pop-ups, einmal in einer Eisdiele in der Winterzeit während der Pandemie und dann einen zweiten 2022 zusammen mit 'Ain't No Trash', einem Studio für Vintage-Design. Dieser Pop-up wurde über ein Projekt von der Stadt ermöglicht und wir konnten für ein halbes Jahr in die Innenstadt ziehen.
Zu dieser Zeit haben wir auch gemerkt, wie wichtig der Schritt in Richtung stationärer Handel ist, da wir nach Covid einen Rückgang online verzeichneten und uns durch den Brexit unser wichtigstes Land, sowohl auf Kund:innenseite als auch in Bezug auf Brands, weggefallen ist. Wir hatten super viele Londoner Brands, aber das ist durch die Einfuhr-Umsatzsteuer leider aktuell kein Thema mehr. Es bricht mir das Herz, zum einen für die Kund:innen, aber natürlich auch so für die Designer:innen, die jahrelang einen super Job gemacht haben.
Sie gingen den Schritt in Richtung stationären Handel in einer Zeit, in der dieser strauchelt. Gehört da eine Portion Mut dazu?
Ja, oder ein wenig Naivität. Es findet derzeit eine Umwälzung statt, doch ich bin nicht ganz sicher, ob die großen Player gerade überdurchschnittlich große Probleme haben oder das Umfeld einfach gesund schrumpft und das Spielfeld wieder für alle auf ein Level zurückkehrt.
Inwiefern wirkt sich diese Veränderung auf den Einkaufsprozess aus?
Früher wurden uns dieselben Rahmenbedingungen genannt, die auch ein großer Departmentstore bekommen hat, und da konnten wir natürlich nicht mithalten, doch nun scheinen diese Konditionen wieder individueller zu werden, alle arbeiten abermals stärker zusammen.
Stationär war für uns aber auch dahingehend ein Gamechanger, dass viele Brands, mit denen wir arbeiten, immer noch großen Wert auf physische Präsenz legen. Der Store hat uns in diesem Sinne abermals einige Türen geöffnet.
Wie kann man sich Ihren Ordner-Rhythmus vorstellen?
Wir folgen mehr oder weniger dem traditionellen Order-Rhythmus. Ich frage allerdings beispielsweise während der Herbst/Winter-Order noch nach verfügbaren Stücken für Frühjahr/Sommer. Wir haben nicht die finanziellen Möglichkeiten, bereits ein halbes Jahr früher eine Unmenge auszugeben und zu hoffen, dass am Ende des Tages der Store so laufen wird, wie wir uns das wünschen. Vielmehr versuchen wir sehr agil zu sein, zu beobachten, was derzeit im Laden ist und hervorragend läuft und dann dementsprechend zu reagieren.
Da London nicht mehr im Bereich des Möglichen liegt, wo suchen Sie derzeit nach Inspiration?
Die Kopenhagen Fashion Week ist immer inspirierend. Kopenhagen hat es geschafft, sich als die fünfte Fashion Week zu etablieren, was andere Städte ja vorher schon versucht haben. In Kopenhagen gibt es ganz klar die Mittel und die Bereitschaft sowohl etablierte als auch jüngere Brands zu fördern, außerdem herrscht dort noch die Lust auf Fashion vor, es ist nicht ganz so ‚abgehetzt‘. Aktuell gibt es auch eine sehr interessante skandinavische Welle, die Wert auf Nachhaltigkeit legen, aber trotzdem progressiv sind.
Im Juni 2018 ist Wasted Hour mit zwei Marken online gegangen, heute sind es ungefähr 20. Nach welchen Kriterien wählen Sie Labels für den Store aus?
Das Erste ist, ganz egal, ob bei einer Empfehlung, einem Instagram-Post oder einem Lookbook, dass die Marke etwas in mir auslöst. Ich sehe am Tag wahnsinnig viele Brands, wenn ich dann also etwas sehe, was innehalten lässt, dann ist das der Indikator auf den der klassische Prozess folgt.
Das heißt für uns: Kontaktaufnahme? Wer steht dahinter? Ist man sich sympathisch? Wie ist die Qualität der Ware und wie wird sie hergestellt, was für ein Konzept steht hinter der Brand, haben wir die Kund:innen dafür, wie ist die Marge und wie oft gibt es die Produkte bereits in Hamburg – und dann wird die Luft schon relativ dünn. Sollten diese Punkte generell alle passen, kommt es schließlich aber auch noch darauf an, ob wir uns mit der Brand auf Konditionen einigen können. Wie lange dieser Prozess dauert, ist immer ganz individuell, manchmal ist es super schnell, andere Male dauert es einige Saisons.
Sie sprachen gerade die Qualität und Herstellung der Ware an, hier kommt dann auch das Steckenpferd der Nachhaltigkeit ins Spiel. Wie definieren Sie den Begriff für sich?
Diese Diskussion ist endlos, auch, da der Begriff Nachhaltigkeit nach wie vor nicht wirklich definiert ist. Genau deshalb habe ich mich jahrelang dagegen gewehrt, ganz offiziell als „Sustainable Store“ zu kommunizieren. Viele nachhaltige Geschäfte haben einen sehr bestimmten Look und vertreten sehr strenge moralische Standpunkte, beides ist mir fremd. Nachhaltigkeit bei uns definiert sich über offene Kommunikation, sowohl mit den Marken, mit denen wir im ständigen Austausch stehen und bei denen wir viel hinterfragen, als auch mit unseren Kund:innen, denen wir die jeweiligen Informationen zur Herstellung liefern können.
Es besteht in gewisser Weise, genau wie bei genderloser Mode, ein Erziehungsauftrag. Ich habe mich lang davor gesträubt, doch ich denke am Ende des Tages ist das, also der Austausch mit den Kund:innen, der Sinn und Zweck eines physischen Stores.
Sie haben sich mit der Nachhaltigkeit und der Geschlechtsneutralität zwei hochaktuellen Themen verschrieben …
Natürlich war es spannend, aber auch absolut naiv. Ich habe mich einfach zu Beginn etwas überschätzt und die Thematik Nachhaltigkeit und Genderless unterschätzt, insbesondere in einer Stadt wie Hamburg. Wie viel Pionierarbeit kann man sich insbesondere am Anfang noch auflasten? Allerdings kann es auch nicht der Mechanismus sein, dass alles, was etwas „cooler“ oder „anders“ ist, in Berlin oder außerhalb Deutschlands stattfindet.
Zahlt sich die Pionierarbeit finanziell in der Zwischenzeit aus?
Ich bin nicht in das Business gegangen, um das große Geld zu machen; wäre das mein Ziel gewesen, hätte ich mit Jura weitergemacht und wäre in die Großkanzlei gegangen. Es ist eine unglaubliche Leidenschaft dabei und ich stehe hundertprozentig hinter der Entscheidung. Ich hatte mich immer gefragt, warum die Modebranche funktioniert, wie sie funktioniert und warum es keiner anders versucht. Jetzt habe ich auf jeden Fall ein paar Antworten mehr, weiß aber auch, dass es sich lohnt, an einem Konzept, auch wenn es Erziehungsarbeit benötigt, festzuhalten.
Was würden Sie mit dem Wissensstand, den Sie jetzt haben, anders machen, wenn Sie noch einmal von null starten könnten?
Wahrscheinlich alles. Das ist so ein wenig, als ob man ein Videospiel durchgespielt hat und dann weiß, wie es funktioniert. Aber wie viel Spaß macht es dann noch? Der größte Lernprozess für mich war definitiv die Erkenntnis, dass man mit der Kommunikation, sei es in Bezug auf die Nachhaltigkeit oder die Geschlechtsneutralität, wirklich bei Minus 1000 beginnen muss; das war ein Realitätscheck.