Inklusive Innenstadt: Die "Stille Stunde" in Wiesbaden hinterfragt das Einkaufserlebnis
Wird geladen...
Jeden Donnerstag zwischen 15 und 17 Uhr werden die Lichter gedämpft und Geräusche reduziert. Insgesamt 20 Handelsunternehmen nehmen an der Initiative in der Innenstadt teil. Das Einkaufen soll so barrierefreier werden, und der öffentliche Raum damit zugänglicher. Die ‘Stille Stunde’ richtet sich insbesondere an Menschen mit Autismus, Angststörungen, sensorischer Überempfindlichkeit oder anderen Einschränkungen. Aber nicht nur diese scheinen zu profitieren.
Wie reduziert ein Shoppingcenter Reize?
Das Einkaufszentrum LuisenForum, das auch Filialen von Modemarken wie Lascana oder Betty Barclay zu seinen Mieterinnen zählt, ist von Anfang an bei der Initiative dabei.
„Für mich war sofort klar, dass wir als LuisenForum teilnehmen werden, denn ein reizreduziertes Umfeld erleichtert nicht nur Menschen mit besonderen sensorischen Bedürfnissen den Alltag und den Zugang in die Innenstadt, sondern schafft für alle eine angenehmere Atmosphäre beim Einkaufen”, sagt Center-Managerin Janine Marz von Savills Property Management.
Zur ‘Stillen Stunde’ wird das Licht auf den Ladenstraßen im LuisenForum ausgeschaltet, es läuft auch keine Musik mehr, teilt Marz per E-Mail mit. Es wurden auch zusätzliche Sitzmöglichkeiten eingerichtet, unter anderem im ersten Obergeschoss als Teil der Work&Relax Lounge des LuisenForums.
Im dritten Obergeschoss vor den Büros des Centermanagement wurde noch ein Rückzugsort eingerichtet, an dem Menschen in Ruhe für sich sein können. Es soll bald auch Einkaufspat:innen geben, die helfen sollen, entspannter shoppen zu gehen.
Reizüberflutung für Menschen wächst
Für manche Menschen kann der Besuch einer Innenstadt sehr anstrengend sein, denn sie nehmen Geräusche und Bewegungen intensiver wahr als andere. Ein Shoppingtrip ist für sie inmitten einer Flut von Reizen kein Vergnügen, sondern wird schnell zur Überforderung, kostet Kraft und stresst. Ihre Bedürfnisse werden in einer Gesellschaft bisher oft nicht berücksichtigt, in der vieles für sogenannte “neurotypische” Menschen ausgelegt ist. Das liegt auch daran, dass es an Bewusstsein und Wissen fehlt.
Das Projekt ‘Stille Stunde’ der Landeshauptstadt Wiesbaden in Kooperation mit der Initiative „gemeinsam zusammen e.V.“ und dem Land Hessen soll diesen Bedürfnissen Raum geben. Außer der Reduzierung von Reizen helfen auch Rückzugsorte – wie im LuisenForum – Menschen, die im Shopping-Getümmel dringend eine Ruhepause brauchen.
Alle Geschäfte im LuisenForum haben ihre Mitarbeitenden sensibilisiert und viele Läden ergreifen noch zusätzliche Maßnahmen, erzählt Marz. Der Elektronik-Anbieter Saturn biete einen eigenen Rückzugsort im zweiten Obergeschoss an und schaltet 40 Prozent der Bildschirme aus.
Ruhe statt Reizüberflutung im Handel
Menschen würden immer gereizter aufgrund des Lärms oder der Lichter reagieren, mit denen der Einzelhandel Aufmerksamkeit generieren will, sagt Andrea Vienna, Geschäftsführerin des Berg-Lofts in Wiesbaden. „Das macht den wenigsten Leuten noch Spaß.”
Sie hat sich der Initiative ‘Stille Stunde’ angeschlossen, weil sie es wertschätzt, dass die Stadt Bewusstsein für das Thema reizempfindlicher Menschen schaffen will. Für sie sei eine ruhige Einkaufsatmosphäre, aber nichts “Außergewöhnliches”. Das war bereits vorher Teil des Konzepts des Flagship-Stores der Outdoor-Marke Maloja. Die Marke sei sehr werte- und menschenorientiert, betont Vienna.
„Wir legen sehr viel Wert auf die Person, die zu uns kommt”, sagt sie während eines Telefongesprächs. „Wenn du darauf Wert legst, dann knallst du diese nicht mit irgendwelchen Geräuschen und Lichtern zu, um sie zu bezaubern, sondern versuchst das mit deiner Ware, deiner Marke und deiner Persönlichkeit und machst den Leuten eine schöne Zeit.”
Neben der Bekleidung von Maloja werden noch Rucksäcke und Duftkerzen angeboten, der Store strahlt mit den vielen Holzelementen Naturverbundenheit aus. „Ich weiß doch, dass die Menschheit sowieso komplett gestresst ist und dann sollen sie bei mir im Store einfach Ruhe erfahren”, fügt Vienna hinzu.
Positive Reaktionen
Obwohl im Laden selbst wegen des ohnehin gedämpften Lichtes nicht viel verändert werden muss, ist auch Vienna froh, dass sie durch die Initiative mehr dazugelernt hat. Ihr war auch vorher nicht bewusst, dass es viele empfindliche Menschen gibt, dass Reizüberflutung unter anderem Migräne auslösen kann und Menschen deswegen Läden meiden oder nicht angesprochen werden wollen.
Zur ‘Stillen Stunde’ wird die leise Hintergrundmusik im Berg-Loft ausgeschaltet, die Tür bleibt auf, damit sie nicht quietscht oder mit einem lauten Knall zugemacht wird. Vienna, die sonst direkt auf ihre Kundschaft zugeht und ein Getränk anbietet, wartet ab, bis diese nach dem Eintreten selbst ein Gespräch beginnen oder ein Zeichen geben.
Die ‘Stille Stunde’ fand bisher noch nicht oft genug statt, um mehr über die Reaktionen der Kundschaft zu sprechen, sagt Vienna. Das schreibt auch Emil Gavrov, Geschäftsführer des Concept Stores Sister Roots per E-mail. Für seinen Store sei die Umstellung auch unkompliziert gewesen: „Unser kleiner Concept Store ist generell mit Wohnzimmer-Atmosphäre gestaltet, sodass wir schon ohnehin viele Elemente wie Ruhe, Rückzugsmöglichkeiten und Flexibilität leben.”
Von der Initiative und der angenehmeren Atmosphäre beim Einkaufen profitieren neben den Kund:innen auch die Mitarbeitenden in den teilnehmenden Geschäften, sagt LuisenForum-Managerin Marz. Die Reaktionen sind sehr positiv und es fällt auf, dass in diesen zwei Stunden eine andere, entspanntere Atmosphäre im Center herrscht.
„Die ganze Initiative lebt von vielen kleinen Maßnahmen und wächst”, sagt die Center-Managerin. „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich noch weitere Geschäfte in Wiesbaden anschließen werden, denn reizarmes Einkaufen tut allen gut.”