Expertenmeinung: Wirtschaft 2024, Schlüsselthemen Mode und Einzelhandel
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Was sind die Chancen und Herausforderungen für Mode und Einzelhandel? Vier Experten sprechen über die Geschäfte im Jahr 2024 und darüber hinaus und teilen ihre Meinung zu Themen wie Künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit und mehr.
Ein Blick auf 2024 und darüber hinaus
Erfahrungsexperte Melvin van Tholl von der Kreativ-Strategie-Agentur Bloody Believers:
Bequemlichkeit bieten oder einnehmende Erfahrungen schaffen
„Die wichtigsten Entwicklungen für 2024 sind eigentlich schon im Gange“, beginnt Van Tholl. „Im vergangenen Jahr waren sie in vollem Umfang zu sehen. Aber in den kommenden Jahren werden sie die Einzelhandelslandschaft beschleunigen, mit interessanten Möglichkeiten sowohl für Marken als auch für Einzelhändler:innen.“
„So werden wir einerseits sehen, wie (Online-)Einzelhändler:innen eine Fülle von innovativen Formen der Künstlichen Intelligenz einsetzen, um ihrer Kundschaft einen noch intelligenteren, schnelleren und effizienteren Komfort zu bieten. Auf der anderen Seite sehen wir, dass Marken stärkere Engaging Experiences für eine tiefere (emotionale) Verbindung mit ihren Kund:innen sorgen. Dies kann bedeuten, dass sie bestimmte Emotionen (wie Nostalgie oder Identitäten (wie Cosplay) einsetzen”, so der Strategieberater.
„Letzteres wird auch als bewusster Markenverstärker in der Gesamtmarketingstrategie der Marken eingesetzt. Fast-Fashion-Marken zum Beispiel machen Fortschritte mit Slow-Shopping-Konzepten und versuchen, Kund:innen so lange wie möglich zu halten, indem sie sich auf den Lebensstil konzentrieren. Der neue Uniqlo-Laden in Covent Garden, London, mit einem Café im Laden, einer Stickerei-Personalisierungsstation und einer Re-Uniqlo-Station für Reparaturen und Wiederverwendung ist ein konkretes Beispiel dafür“, erläutert Van Tholl.
Ihm zufolge wird Nachhaltigkeit auch zu einer immer wichtigeren Säule für den Service und das Erlebnis der Kund:innen.
Trendwatcher, Futurist und Innovationsspezialist Bert Van Thilborgh, Mitglied des Trendbüros Futureproved Trendwatchers:
Hyperpersonalisierung und andere Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz
„Mit Blick auf die Mode und den Einzelhandel denke ich, dass die Hyperpersonalisierung durch die Künstliche Intelligenz ein wichtiges Thema sein wird“, beginnt Van Thilborgh. „Ich sehe ohnehin, dass künstliche Intelligenz die Kreativität beflügelt. Alle können also sozusagen Mode entwerfen. Design skills sind nicht mehr notwendig: Sie können Kleidung und Accessoires entwerfen, indem Sie einen Text eingeben, und es gibt Plattformen wie die digitale KI-Plattform Cala, die Ihnen die ganze Arbeit abnehmen.“
Er bemerkt, dass Menschen nicht nur Modedesigner:innen werden können, sondern auch Einzelhändler:innen. „Denn sie werden auch anfangen, diese entworfenen Produkte zu verkaufen, sei es über ihre Social-Media-Kanäle oder über diese (KI-)Plattformen. Das sind Dinge, die das Image von Mode und Einzelhandel verändern werden“, ist sich Van Thilborgh sicher
Er betont jedoch auch, dass die KI noch in den Kinderschuhen stecke. „Vor ein paar Jahren hat Ray Kurzweil sehr schön gesagt, dass KI dem MS-DOS der 1990er Jahre entspricht, dem Steuerungsprogramm der ersten Computer. Wir finden es schon sehr spektakulär, aber es steht noch am Anfang.“
Rückgang von Kaufkraft und Markentreue & hybride Verbraucher:innen
Der Rückgang der Kaufkraft wird sich ebenfalls auswirken und eine Reihe von Folgen haben, so Van Thilborgh. „Wir setzen mehr auf Nachhaltigkeit, sie ist bei den Verbraucher:innen stärker in den Vordergrund gerückt. Aber wenn man sich die Erfahrungen und Zahlen ansieht, werden die Menschen immer noch zuerst ihr Portemonnaie zücken. Nachhaltigkeit wird gegen diesen Kaufkraftverlust verlieren.“
Zu den weniger guten Nachrichten für Marken gehören für den Trendbeobachter auch, dass die Markentreue abnimmt. „In der Mode ist das wahrscheinlich etwas weniger komplex, aber wir sehen das sehr stark im Einzelhandel. Viele Menschen tendieren zu Eigenmarken.“
Einzelhändler:innen sollten vor allem hybride Verbraucher:innen berücksichtigen, fährt der Zukunftsforscher fort, ein Konzept, das von der Rabobank in Zeiten der Bankenkrise vor etwa 15 Jahren entwickelt wurde. „Diese hybriden Verbraucher:innen zeigen ein gemischtes Kaufverhalten: Einerseits sind sie bereit, viel Geld für Luxusprodukte auszugeben (als Statussymbol und aufgrund der Erfahrung), andererseits sind sie sehr preisbewusst bei billigeren Produkten mit weniger emotionalem Wert“, erklärt Van Thilborgh. Marken, die sich zwischen dem Billig- und dem Luxussegment befinden, werden „ausgequetscht“. „Sie haben bereits zu kämpfen.“
Van Thilborgh erklärt, dass bereits vor sieben Jahren, während der Rezession, ein „Knick“ zu sehen war. Er meint damit die Schwierigkeiten im mittleren Segment. „Danach ging es eine ganze Zeit lang aufwärts, bis ‘die mittleren Unternehmen Platz bekamen. Aber wenn es dann zur Krise kommt, gibt es eigentlich eine Polarisierung im Handel“, so Van Thilborg. Seine Devise für mittelständische Unternehmen lautet daher, eine klare(re) Wahl zu treffen: „Entweder man setzt auf hohe Stückzahlen bei niedrigen Margen oder man konzentriert sich auf Luxus und Erlebnis“.
Albert Top, Direktor/Eigentümer der strategischen Einzelhandelsberatung Crossmarks und des Netzwerks New Retail Group (NRG)
„Mode-Einzelhändler:innen müssen sich schneller auf ihre Kundschaft einstellen“
„Die Kundenbedürfnisse in der Modebranche verschieben sich erheblich“, erklärt Top. „Während 10 Prozent der Modegeschäfte seit der Corona-Pandemie von der Bildfläche verschwunden sind, sind 11 Prozent der Second-Hand-Läden hinzugekommen, so die Untersuchung von ABN Amro. „Und diese Zahl wächst“, stellt der Experte fest, was ihm zufolge nicht nur mit Nachhaltigkeit zu tun, sondern auch mit dem Bedürfnis nach Authentizität. „Warum sehen wir nicht öfter Secondhand-Kleidung als Modul oder Zone in regulären Geschäften?“
„Auch der Customer Journey verändert sich stark, insbesondere in der Modebranche, und beginnt zunehmend in den sozialen Netzwerken“, so Top. Ein inhaltsorientierter Medienplan für dieses Jahr ist alsoKey. „Personalisieren und intelligent ansprechen“, lautet sein Motto. „Es gibt viele Möglichkeiten, aus diesen Kund:innentrends heraus an Marken- und Formelinnovationen zu arbeiten. Einzelhändler:innen und Marken, die ihr Kund:innenwissen vertiefen und sich dann blitzschnell anpassen können, werden im Jahr 2024 die Gewinner sein“, sagt er voraus.
Henk Hofstede, Sektor Banker Einzelhandel von ABN Amro
Ökonomischer Outlook: Eine moderate, langsame Erholung, auch in der Modebranche"
„Unsere Ökonom:innen haben kürzlich prognostiziert, dass die Erholung der niederländischen Wirtschaft langsam in Gang kommen wird. Es wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2024 um 0,6 Prozent steigen wird, die Ausgaben der Verbraucher:innen um etwa 0,3 Prozent und die Arbeitslosigkeit leicht von 3,7 auf 4 Prozent ansteigt (wobei der Markt immer noch überversorgt ist)“, gibt Hofstede zu Bedenken. „Hinzu kommt die Unsicherheit über das Verbrauchervertrauen, das sich leicht erholt, es liegt aber immer noch deutlich unter dem 20-Jahres-Durchschnitt. Positiv zu vermerken ist, dass die Bürger:innen über relativ hohe Ersparnisse verfügen (zu Corona-Zeiten konnten wir viel sparen) und dass die meisten Menschen einen Arbeitsplatz haben oder - bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage - die Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz, was wiederum Vertrauen schafft.“
ABN Amro erwartet in diesem Jahr eine moderate Erholung, auch im Bereich Mode. Für den Einzelhandel wird ein Volumenwachstum von etwa 0,5 Prozent erwartet. Bei Bekleidung und Schuhen muss man auch über diese Größenordnung nachdenken. „Das ist nicht viel, aber zumindest ein kleines Plus.“
Differenzierung und Wettbewerb
Mit Blick auf die Modebranche unterstreicht Hofstede zunächst die Bedeutung der Unterscheidbarkeit. „In der Bekleidung und insbesondere in den Einkaufsstraßen sehe ich immer noch regelmäßig (zu) wenig Unterscheidungskraft“, stellt er fest. „Einzelhändler:innen sind mit hohen Kosten konfrontiert, man denke an Mietindexierungen von 10 bis 15 Prozent und steigende Personalkosten (etwa 10 Prozent), höhere Einkaufs-, Energie- und Transportpreise. Für Einzelhändler:innen mit wenig Unterscheidungskraft ist es schwierig, diese zusätzlichen Kosten (teilweise) an die Endverbraucher:innen weiterzugeben, da sie befürchten, sich selbst aus dem Markt zu drängen und die Kundschaft an die Konkurrenz zu verlieren, die nur ein bisschen billiger ist.“
Nicht nur in der Einkaufsstraßenszene herrscht laut Hofstede ein Verdrängungswettbewerb, sondern auch bei den neuen Technologien und „Online-Akteur:innen wie den Sheins und Temus dieser Welt, die mit sehr niedrigen Preisen und der schnellen Einführung neuer Artikel locken.“ Gegen solche Parteien müssen sich die Einzelhändler wappnen. Sein Motto für Einzelhändler:innen lautet deshalb: „Stellen Sie sicher, dass Sie etwas Besonderes haben, das Sie von allen anderen unterscheidet.“
Dementsprechend muss das Influencer-Marketing und Social Media passen. „Die jüngere Generation der Verbraucher:innen kann nicht über traditionelle Kanäle erreicht werden, sondern über TikTok oder zum Beispiel Livestreams. Einzelhändler:innen sollten, natürlich abhängig von der Zielgruppe, eine Antwort darauf haben.“
Personal
„Die Personalausstattung ist nach wie vor eine Herausforderung für den Einzelhandel und die Modebranche“, so Hofstede weiter. „Verbraucher:innen gehen in der Regel in physische Geschäfte, weil sie dort Dinge sofort mitnehmen können, um sich inspirieren zu lassen und Dinge anzuprobieren, und vor allem, um sich beraten zu lassen, wie viele unserer Umfragen im Einzelhandel zeigen. Wenn Sie kein qualifiziertes Beratungspersonal haben, fällt der letztgenannte Grund für einen Ladenbesuch weg und Ihnen entgehen Kunden“, argumentiert Hofstede. „Gutes Personal zu finden und zu halten, bereitet vielen Einzelhändler:innenn Kopfzerbrechen, denn der Mangel ist nach wie vor groß. Es gibt sogar Fälle von Geschäften, die ihre Öffnungszeiten anpassen müssen, weil sie unzureichende Personalkapazität haben.“
Künstliche Intelligenz: und das Potenzial für den Einzelhandel
„In der Modebranche werden wir Chancen durch generative KI sehensehen", führt Hofstede das folgende Thema ein.
Generative KI ist eine Form der künstlichen Intelligenz, die selbstständig Inhalte wie Texte, Bilder oder Musik erstellen kann, indem sie aus großen Datenmengen lernt. Quelle: ein Werkzeug für künstliche Intelligenz.
Nachhaltigkeit
Klimaveränderung wird sich auch auf den Modesektor auswirken, prophezeit Hofstede. „Denken Sie an Fabriken, die überflutet oder von einem Hurrikan umgeweht werden. Baumwollernten zum Beispiel, die aufgrund von Dürre ausfallen oder Lieferketten, die auf andere Weise beeinträchtigt werden. Wir wissen nicht, was in diesem Jahr passieren wird, aber die Möglichkeit, dass der Klimawandel den Modesektor beeinträchtigt, wächst und wird immer plausibler. Die Branche muss sich gegen diese Auswirkungen schützen.“
„Und im Bereich der Nachhaltigkeit kommen weitere Gesetze und Vorschriften, wie die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen“, erklärt der Einzelhandelsexperte. „CSRD verlangt von großen Unternehmen, einschließlich Modeunternehmen, in diesem Jahr wichtige Informationen darüber zu sammeln, wie sie sich auf Menschen, Klima und Umwelt auswirken (z. B. Arbeitsbedingungen in der Kette, CO2-Emissionen aus Produktion und Transport, Auswirkungen auf den Verlust der biologischen Vielfalt und die Abfallproduktion), da sie ab 2025 darüber berichten müssen.“
Die Berichterstattung ist auch in der anderen Richtung erforderlich: wie sich umfassendere globale Themen wie der Klimawandel auf das Geschäftsmodell dieser Akteur:innen auswirken werden, weil die Anleger:innen das wissen wollen. „Das nennt man 'doppelte Materialität’“, erklärt er. Unternehmen müssen also sowohl nach innen als auch nach außen schauen, wenn sie ihr Geschäftsmodell und seine Nachhaltigkeitsleistung bewerten.
„Die Gesetzgebung wird einen großen Einfluss haben. Zunächst gilt sie nur für große Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 40 Millionen, aber auch durchschnittliche kleine Einzelhändler:innen werden in Zukunft, wenn auch in geringerem Umfang, darüber berichten müssen“, glaubt Hofstede. „Und wenn Sie als kleine Modemarke oder Großhändler ein großes Kaufhaus oder einen Multimarkeneinzelhändler beliefern, der CSRD einhalten muss, werden Sie wahrscheinlich indirekt die Maßnahmen einhalten müssen, um ebenfalls liefern zu dürfen. Es hat also schon eine indirekte Wirkung.“
Hofstede hebt die jüngste Entwicklung der Branche hervor, in erneuerbare Energien zu investieren. Die H&M-Gruppe und Bestseller etwa investieren in die Entwicklung von Windparks und Projekten für erneuerbare Energien bei ihren Partnerbetrieben in der Lieferkette in Bangladesch. „In Bangladesch basiert ein Großteil der Produktion auf Stein- und Braunkohle, die viel CO2 ausstößt, und das muss drastisch reduziert werden. Diese Parteien sagen: Ja, wir werden bald durch die CSRD als Kettenpartner mitverantwortlich sein. „Wir werden in erneuerbare Energien investieren. Das war vor ein paar Jahren noch nicht der Fall und gewinnt jetzt an Dynamik. Das ist eine positive Entwicklung”, so Hofstede.
Preis, Transparenz, Nachhaltigkeit und Identifikation mit den Markenwerten
„Schließlich bleibt der Preis wichtig. Aus allen ABN Amro-Umfragen der letzten Jahre geht hervor, dass die Kaufentscheidungen der Verbraucher:innen hauptsächlich vom Preis abhängen. Aber diejenigen, die es sich leisten können, entscheiden sich zunehmend für Qualität. Die Transparenz darüber, wie, wo und aus welchen Materialien ein Kleidungsstück hergestellt wird, wird immer wichtiger.“
Hofstede gibt abschließend zu bedenken, dass es für die Generation Y, Millennials und Gen Z immer schwerer wiegt, dass sie sich mit Marken identifizieren können. „Die Standards und Werte einer Marke sollten auch zu ihnen passen, ob das nun Inklusivität, faire und soziale Bedingungen in der Lieferkette (sozial, fair) oder Nachhaltigkeit ist. Marken werden zunehmend danach beurteilt, was sie repräsentieren, wofür sie stehen und welchen Beitrag sie zu einer besseren Welt leisten.“ Er geht davon aus, dass dieser Trend nicht nur im Jahr 2024 relevant sein wird, sondern auch in den Folgejahren an Bedeutung gewinnen wird.
Schriftlicher Beitrag von Melvin van Tholl und Albert Top.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf FashionUnited.nl. Übersetzt und bearbeitet von Simone Preuss.