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Wo steht die Modebranche elf Jahre nach Rana Plaza in Bezug auf Transparenz?

Von Simone Preuss

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Business |Interview

Aktivist:innen be Protest in Dhaka, Bangladesch, anlässlich des 11. Jahrestages des Einsturzes des Rana-Plaza-Gebäudes am 24. April 2024 Bild: NurPhoto / NurPhoto via AFP

Heute vor elf Jahren, am 24. April 2013, stürzte das Rana Plaza-Gebäude in Savar, Bangladesch, ein und tötete mehr als 1.100 Bekleidungsarbeiter:innen und verletzte mehr als 2.500, viele von ihnen schwer. All diese Todesfälle und Verletzungen hätten verhindert werden können, wenn die fünf im Gebäude untergebrachten Bekleidungsfabriken rechtzeitig evakuiert worden wären, wie es bei anderen Unternehmen wie einer Bank und verschiedenen Geschäften der Fall war.

Angesichts der Risse an der Fassade und der Tatsache, dass andere Unternehmen evakuierten, kann man sich fragen, was die Bekleidungsarbeiter:innen dazu veranlasste, in ein Gebäude zurückzukehren, das eindeutig nicht sicher war? Die Antwort ist einfach: Angst und Verzweiflung. Die Angst, keinen Job mehr zu haben, wenn sie sich weigerten, in das Gebäude zurückzukehren, und die Verzweiflung, mit der sie diesen Job brauchten, um zu überleben, um vor allem Grundbedürfnisse wie Lebensmittel und Miete zu bezahlen, und die Ausbildung der Kinder und Medikamente, wenn noch Geld übrig war.

FashionUnited wollte wissen, was sich seitdem geändert hat und was sich in der Branche noch ändern muss, damit so etwas nie wieder passiert. Wir sprachen mit Liv Simpliciano, Policy and Research Manager, und Lauren Rees, Assistentin für digitale Kommunikation, beide bei Fashion Revolution. Die Non-Profit-Organisation wurde 2014 als Reaktion auf den Einsturz des Rana Plaza-Gebäudes gegründet und hat sich zur weltweit größten Modeaktivismus-Bewegung entwickelt, die Bürger:innen, Marken und politische Entscheidungsträger:innen durch Forschung, Bildung und Lobbyarbeit mobilisiert. Ziel ist es, „eine globale Modeindustrie zu schaffen, die die Umwelt erhält und wiederherstellt und Menschen über Wachstum und Profit stellt“.

Lauren Rees (links) und Liv Simpliciano, Fashion Revolution.   Bild: Fashion Revolution

Ein wichtiger Bereich, der einbezogen werden muss, ist die Transparenz, die vor zehn Jahren, als Fashion Revolution gegründet wurde, von Marken und Einzelhandelsunternehmen nicht wirklich als ein Muss angesehen wurde. Tatsächlich waren viele dagegen, ihre Lieferbetriebe offenzulegen, da sie keinen Wettbewerbsvorteil verlieren wollten, insbesondere Luxusmarken.

Würden Sie sagen, dass die Branche seither einen weiten Weg zurückgelegt hat?

Ja und nein. In den letzten zehn Jahren ist die Transparenz in den Lieferketten der Modebranche zu einem Mainstream-Thema geworden, und wir haben gesehen, dass einige der weltweit größten Marken seit der Einführung des Fashion Transparency Index (FTI) im Jahr 2017 ermutigende Fortschritte gemacht haben. Betrachtet man jedoch das Gesamtbild, so gibt es immer noch zu viele Marken, die Jahr für Jahr einfach nichts offenlegen, und der Fortschritt in der Branche ist mit einem Gesamtwert von nur 26 Prozent unglaublich langsam.

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Errungenschaften in Bezug auf Transparenz?

In unserem FTI 2023 -Bericht lag die Beteiligung der 250 Marken, die wir im Index analysieren, bei 61 Prozent, was eine enorme Veränderung des Engagements der Marken seit dem Start im Jahr 2017 zeigt. In diesem Zeitraum haben 86 Prozent der großen Modemarken, die wir analysieren, ihre Offenlegung kontinuierlich um durchschnittlich 15 Prozentpunkte gesteigert, wobei einige dieser Marken ihre Transparenz um bis zu 54 Prozent erhöht haben. Als wir den FTI 2017 zum ersten Mal einführten, war es auch unvorstellbar, dass Luxusmarken jemals ihre Tier-1-Lieferbetriebe offenlegen würden, aber im Jahr 2023 waren die fünf größten Aufsteiger allesamt Luxusmarken, wobei Gucci insgesamt 80 Prozent erreichte.

Woran mangelt es der Branche Ihrer Meinung nach, was Transparenz betrifft?

Obwohl Transparenz im Mainstream angekommen ist, zögert die Branche, bei den wichtigsten Themen wie existenzsichernde Löhne, Überproduktion und Dekarbonisierung Fortschritte zu machen. Obwohl Marken den Arbeiter:innen, die ihre Kleidung herstellen, faire Löhne versprechen, haben sie in den letzten zehn Jahren kaum Fortschritte zu verzeichnen. Für die Menschen, die unsere Kleidung herstellen, sind existenzsichernde Löhne das wichtigste Thema. Dennoch geben 99 Prozent der im Index aufgeführten Marken nicht an, wie viele Arbeiter:innen in ihrer Lieferkette einen existenzsichernden Lohn erhalten.

Nähen auf der Straße beim „Mend in Public Day“ London 2024. Bild: Fashion Revolution

Unterdessen produzieren Marken in allen Marktsegmenten weiterhin jedes Jahr enorme Mengen an Kleidung und fördern eine Kultur des Überkonsums, die im Widerspruch zu Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit steht. Nur 12 Prozent der von uns untersuchten Marken legten ihre jährlichen Produktionsmengen offen, was einen klaren Mangel an Transparenz in Bezug auf Informationen zeigt, die jede vernünftige Marke bewusst verfolgt.

Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Klimakrise ist es alarmierend, dass kaum mehr als ein Drittel der größten Marken der Welt ein zeitlich begrenztes und messbares kurzfristiges Ziel für die Dekarbonisierung angibt, das von der Science-based Targets Initiative verifiziert wurde, und dass nur 9 Prozent der Marken ihre jährlichen Investitionen in die Dekarbonisierung offenlegen. Die fehlende Angabe dieser Schlüsselthemen ist besorgniserregend und lässt uns daran zweifeln, ob sich die Marken überhaupt mit ihnen befassen.

Würden Sie sagen, dass sich Marken und Einzelhandelsunternehmen dafür erwärmen, dass Transparenz ein Muss sein sollte?

Mit den kommenden Gesetzen wird Transparenz bald keine Option mehr sein, sondern eine Pflicht. Marken sollten sich so bald wie möglich mit dem Prozess befassen, um sicherzustellen, dass sie auf die regulatorischen Anforderungen, die auf die Branche zukommen, vorbereitet sind.

Die Wahrheit ist, dass zwar mehr als die Hälfte (52 Prozent) der 250 von uns untersuchten Marken ihre Liste der Tier-1-Lieferbetriebe offenlegen, dies aber auch bedeutet, dass fast die Hälfte der Branche dies noch immer nicht tut. Die Offenlegung der Lieferantenliste ist der eigentliche Anfang der Rechenschaftspflicht.

Fashion Revolution-Team beim „Mend in Public Day“ London 2024. Bild: Fashion Revolution

Einige Marken, die wir seit 2017 kontinuierlich im Index überprüfen, erreichen immer noch 0 Prozent. Das sind die Marken, die hoffentlich durch die Gesetzgebung bewegt werden, denn es ist klar, dass freiwillige Transparenz nicht in ihrem Interesse ist. Inmitten einer sich verschärfenden Klimakrise signalisiert ein Mangel an Transparenz zum jetzigen Zeitpunkt ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo. Mangelnde Transparenz verhindert kollektives Handeln und Fortschritte in wichtigen Menschenrechts- und Umweltfragen. Jede Marke, die es ernst meint mit der Wiedergutmachung und Verhinderung von Schäden, muss Transparenz zur Grundlage ihrer Strategien machen.

Erkennen Marken, dass Transparenz auch wirtschaftlich sinnvoll ist?

Transparenz und Rückverfolgbarkeit sind die grundlegenden Anforderungen der meisten neuen Rechtsvorschriften der EU und der USA; Marken, die sich nicht an diese Anforderungen halten, müssen mit wirtschaftlichen Sanktionen rechnen. Aus geschäftlicher Sicht ist es ratsam, sich auf die neuen Rechtsvorschriften vorzubereiten. Die Rückverfolgung und Messung der sozialen und ökologischen Auswirkungen einer Lieferkette ist ein wichtiger Schritt, um sich auf die sich verändernde Betriebslandschaft vorzubereiten, die die Modebranche in den nächsten zehn Jahren beeinflussen wird.

Die Umwelt, die Gemeinden und die Menschen, die unsere Kleidung herstellen, haben jedoch lange Zeit den Preis für einen Mangel an angemessener Sorgfaltspflicht gezahlt. Transparenz und Rückverfolgbarkeit sollten nicht nur wegen ihrer finanziellen Vorteile eingeführt werden, sondern auch im Namen der Gerechtigkeit: Die Kosten für die Sorgfaltspflicht sollten von den Marken übernommen werden, da sie sich in einer immensen Machtposition befinden. Wichtig ist, dass diese Strategien stark genug sind, um die am meisten gefährdeten Akteur:innen in der Lieferkette zu erreichen. Alles in allem ist es viel billiger, Risiken zu beseitigen, bevor sie in einer Tragödie enden, als im Nachhinein enorme Kosten und Geldstrafen zu zahlen. Marken sind dafür verantwortlich, Tragödien zu verhindern, und müssen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie versagen.

Glauben Sie, dass die Pandemie den Transparenz-Bemühungen Auftrieb gegeben hat?

Vor der Pandemie galten Nachhaltigkeit und Transparenz als „nice to have“. Als die Pandemie ausbrach, waren die ersten Teams, die entlassen oder gekürzt wurden, die Nachhaltigkeitsteams von Modemarken. Die Pandemie hatte enorme Auswirkungen auf den Einzelhandel. Die Branche geriet in Bezug auf Menschenrechte und Umweltfragen massiv ins Hintertreffen und legte ein beklagenswertes Verhalten an den Tag - zum Beispiel Auftragsstornierungen in großem Umfang und Lohndiebstahl unter den Beschäftigten.

In Großbritannien beispielsweise wurde die Berichterstattung der Marken über moderne Sklaverei unterbrochen, da die Regierung ein Zugeständnis machte, die Offenlegung zu unterbrechen - leider zu einer Zeit, als das Risiko moderner Sklaverei extrem hoch war. Als Reaktion darauf ging die Offenlegung der von uns im Fashion Transparency Index untersuchten Marken zurück - was wiederum unterstreicht, warum eine verbindliche Gesetzgebung so dringend notwendig ist, denn wenn man einigen Marken die Möglichkeit gibt, ihre Daten freiwillig offenzulegen, werden sie sich möglicherweise dafür entscheiden, Informationen zurückzuhalten, ohne dass sie unter Druck gesetzt werden.

„Mend in Public Day“ London 2024. Bild: Fashion Revolution

Auch bei den Fabriklisten der Marken gab es eine Verzögerung bei der Aktualisierung. Es herrschte eine echte Flaute in der Branche, was Transparenz anging. Nach der Pandemie gab es jedoch eine Mentalität des „Build back better“. Als sich die Wirtschaft nach der Pandemie wieder erholte, rückte Nachhaltigkeit stärker in den Vordergrund des Bewusstseins der Bürger:innen. Jetzt werden Unternehmen, die keine Transparenz einführen, langfristig nicht überleben.

Wie sollte idealerweise die Transparenz der Lieferketten in der Textil- und Bekleidungsindustrie aussehen?

Alle sollten in der Lage sein, sich darüber zu informieren, wer, wo und unter welchen Bedingungen ihre Kleidung hergestellt wurde, und zwar von der letzten Stufe bis hin zum Anbau der Fasern. Es geht um die Transparenz der Lager-/Logistikarbeiter:innen, der Bekleidungsarbeiter:innen, der Spinntechniker:innen und der Landwirt:innen. Transparenz nicht nur darüber, wer die Kleidung hergestellt hat, sondern auch darüber, wie viel ihnen bezahlt wurde. Vollständige Transparenz von Anfang bis Ende. Im Grunde genommen ist Transparenz eine Frage der Ehrlichkeit und der Offenheit für Überprüfungen.

Wenn wir über Bekleidungsetiketten nachdenken, sieht die ideale Transparenz so aus:

  • Arbeitskosten pro Produkt und die für die Herstellung des Produkts benötigte Zeit (z. B. die Zeit in Minuten/Stunden für die Herstellung des Produkts auf Ebene der Cut-Make-Trim-Einheit)
  • Aufschlüsselung der Fasern, Herkunft und Zertifizierungen
  • Transparenz über alle gefährlichen Chemikalien, die in den Textilien enthalten sind, sowie über die Chemikalien, die während des gesamten Herstellungsprozesses verwendet werden, und über die potenziell schädlichen Auswirkungen der einzelnen verwendeten Chemikalien.

Das wichtigste Plädoyer ist, dass es bei der Transparenz in der Modebranche nicht nur um Transparenz um der Transparenz willen geht. Die Branche braucht transparente, verwertbare Daten, damit Bürger:innen, die Zivilgesellschaft und betroffene Interessengruppen die Branche zur Rechenschaft ziehen können.

Wir müssen über die Fabriklisten hinausgehen, die als Schlüssel zu weiteren Informationen dienen können. Die Offenlegung kann sich nicht auf die Listen beschränken, wir brauchen Einblicke in die jährlichen Produktionsmengen, Arbeitsbedingungen, Löhne und Primärdaten zum Umweltmanagement.

Wichtig ist, dass diese Informationen im Einklang mit dem Open Data Standard für den Bekleidungssektor offengelegt werden - in einem Excel- oder CSV-Format, damit sie maschinell lesbar sind. Schon jetzt legen einige Marken ihre Listen der Lieferbetriebe nicht offen, und einige, die dies tun, tun dies immer noch im PDF-Format, was dem Standard, auf den wir die Branche drängen, zuwiderläuft.

Wir wünschen uns mehr Transparenz darüber, was Marken in Bezug auf einen gerechten Übergang, die Förderung erneuerbarer Energien, Fortschritte bei der Dekarbonisierung und deren Finanzierung tun. Wie unterstützen sie ihre Lieferbetriebe bei der Umstellung auf saubere Energie? Wie unterstützen sie die Abschwächung und Anpassung an die Klimakrise?

Wir verlangen viel, aber wir sind der Meinung, dass die Informationen, um die wir uns bemühen, entscheidend sind, um Gerechtigkeit für die Menschen, die unsere Kleidung herstellen, und für die Umwelt zu schaffen. Letztlich liegt der Planet auf dem Verhandlungstisch. Es gibt keine nachhaltige Mode ohne faire Bezahlung und letztlich keine Mode auf einem toten Planeten.

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Dieses Interview wurde in schriftlicher Form geführt.

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