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Mammutaufgabe für Jonathan Anderson: Was erwartet den Designer bei Dior?

Von Jule Scott

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Jonathan Anderson bei Loewes SS23-Show. Credits: ©Launchmetrics/spotlight

Die Ernennung von Jonathan Anderson zum Artistic Director sowohl für Damen- als auch Herrenmode bei Dior war lange Gegenstand großer Erwartungen und Spekulationen. Nun ist die Doppelfunktion des nordirischen Designers offiziell bestätigt – und sie markiert einen historischen Moment: Anderson ist der erste Kreativdirektor seit Christian Dior selbst, der sämtliche Bereiche des legendären französischen Modehauses verantwortet – inklusive Haute Couture.

Zehn Kollektionen pro Jahr – und das ist noch nicht alles

Mit großer Verantwortung kommt auch eine enorme Arbeitslast. Allein für Dior wird Anderson künftig zehn Kollektionen jährlich gestalten – zusätzlich zu den sechs Kollektionen für sein eigenes Label J.W. Anderson und den zwei Linien, die er in Zusammenarbeit mit Uniqlo entwirft. Viele gingen angesichts der neuen Herausforderung und des Ausbleibens seiner Marke im Februar-Modenkalender davon aus, dass er seine Arbeit bei J.W. Anderson ruhen lassen würde. Doch wie Business of Fashion unter Berufung auf CEO Jenny Galimberti berichtet, bleibt Anderson weiterhin offiziell an allen sechs Kollektionen seines Labels beteiligt.

Die Belastung ist gewaltig – selbst für einen Designer, der für seinen unermüdlichen Arbeitsrhythmus und seine kreative Produktivität bekannt ist. Seit der Gründung seines Labels 2008, an dem LVMH seit 2013 eine Minderheitsbeteiligung hält, hat Anderson kaum Pausen eingelegt.

Parallel transformierte er Loewe, das spanische Modehaus unter dem Dach von LVMH, das er mit nur 29 Jahren übernahm, von einer weitgehend unbedeutenden Marke zu einem weltweit gefragten Modeplayer mit geschätzten Jahresumsätzen von rund zwei Milliarden US-Dollar. Selbst das schien ihn gegen Ende seiner Amtszeit allerdings längt nicht mehr vollständig auszulasten, und so entwarf er außerdem Kostüme für Filme des italienischen Regisseurs Luca Guadagnino, darunter Challengers und jüngst Queer.

Verglichen mit dem, was ihn nun bei Dior – einem Modehaus, das laut der Londoner Großbank HSBC 2023 einen geschätzten Umsatz von neun Milliarden Euro erwirtschaftete – erwartet, erscheinen diese Aufgaben im Vergleich fast überschaubar. Nicht umsonst galt bei Dior bis dato eine unausgesprochene Regel: Kein:e Designer:in sollte gleichzeitig Damen- und Herrenmode verantworten – die Arbeitslast galt als schlichtweg zu groß. Der frühere Kreativdirektor John Galliano, der von 1996 bis 2011 für die Damenmode verantwortlich war, führte die übermäßigen Anforderungen – über 30 Kollektionen jährlich für Dior und sein eigenes Label – als Ursache für seinen psychischen Zusammenbruch, seinen Drogenmissbrauch und seinen schließlich Skandal behafteten Rauswurf bei Dior an.

Anderson „offensichtliche Wahl“ für Dior

Anderson wirkt zweifellos gefestigter und weniger exzentrisch als Galliano. Doch wie sein Vorgänger gilt auch er als einer „der kreativsten Köpfe seiner Generation“, wie Bernard Arnault, CEO von LVMH, ihn bei seiner Ernennung zum Herrendesigner im April beschrieb. Delphine Arnault, CEO von Dior, äußerte sich in einem seltenen Interview mit Business of Fashion noch enthusiastischer: Er sei die „offensichtliche Wahl“ gewesen – und „der talentierteste Designer seiner Generation“. Sie kenne ihn bereits seit 13 oder 14 Jahren und betonte insbesondere seine Loyalität – eine Qualität, die er bereits bei Loewe unter Beweis gestellt habe. Gleichzeitig sei ein so ehrgeiziger und energiegeladener Designer wie Anderson zwangsläufig auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.

Diese Herausforderung ist nun Realität geworden. Dior ist nicht nur viermal so groß wie Loewe, sondern bringt auch die Verantwortung für ein deutlich umfangreicheres Kreativteam mit sich – und das in einer besonders sensiblen Phase des Unternehmens. Das Wachstum hat sich zuletzt spürbar verlangsamt, und die Erwartungen an Anderson könnten kaum höher sein, nachdem die Branche eine der längsten und meistdiskutierten Nachfolgeregelungen der jüngeren Modegeschichte erlebt hat.

Die Spekulationen begannen mit dem Rücktritt von Kim Jones als Kreativdirektor von Dior Men und wurden durch anhaltende Gerüchte über den Abschied von Maria Grazia Chiuri verstärkt, die das Damensegment mehr als ein Jahrzehnt lang prägte. Nun ist diese Personalfrage geklärt – auch wenn sie zugleich neue Fragen aufwirft: Wie wird Dior unter Andersons Leitung künftig aussehen?

Eine vereinte kreative Vision – erste Einblicke Ende Juni

Andersons Berufung ist mehr als nur ein kreativer Umbruch – sie signalisiert einen strategischen Kurswechsel. Dior verfolgt erstmals seit Langem eine einheitliche, divisionsübergreifende Designstrategie. In der Vergangenheit waren Damen- und Herrenkollektionen oft stilistisch voneinander abgekoppelt. „Es ist viel Arbeit“, räumt Delphine Arnault ein. „Aber wir glauben, dass es viel Kohärenz schaffen wird – in den Produkten, in der Kommunikation, in den Schaufenstern.“

Sein Antritt läutet somit nicht nur eine neue gestalterische Ära ein, sondern auch eine strukturelle. Seine Vision wird sich vermutlich deutlich von der seiner Vorgänger:innen unterscheiden – basiert jedoch auf intensiver Recherche. Arnault zufolge verbrachte Anderson im Vorfeld seiner ersten Kollektion viel Zeit in den Dior-Archiven. Dort studierte er nicht nur die Arbeit von Christian Dior, sondern auch die seiner Nachfolger:innen. Besonders fasziniert zeigte er sich vom Erbe ikonischer Produkte wie der Lady Dior Bag – und laut Arnault wurde ihm volle kreative Freiheit eingeräumt, diese Hauscodes in seiner eigenen Sprache neu zu interpretieren. Dass Dior ihm diese Freiheit gerade bei Lederwaren zugesteht, überrascht kaum: der Designer hat mit der Loewe Puzzle Bag von 2015 bereits bewiesen, dass er ikonische Accessoires entwerfen kann, die sowohl kulturell prägen als auch kommerziell erfolgreich sind.

Ein Bereich, in dem er trotz seiner umfangreichen Erfahrung bislang keine formelle Expertise vorweisen kann, ist die Haute Couture. Zwar war Handwerkskunst stets ein zentrales Element seiner Arbeit bei Loewe, doch Couture verlangt ein noch höheres Maß an technischer Präzision und künstlerischer Raffinesse. Allerdings erhält er hier Zeit zur Einarbeitung. Dior hat beschlossen, die kommende Couture-Saison auszusetzen – auch, weil Maria Grazia Chiuris letzte Kollektion, obwohl offiziell Ready-to-Wear, rund 20 Couture-Kreationen umfasste.

Dementsprechend wird die kreative Handschrift des Designers erstmals bei seiner Menswear-Debütkollektion im Juni sichtbar – höchstwahrscheinlich ein strategisch gewählter Start. Der Launch über die Herrenmode erlaubt ihm eine gewisse Distanz zur Ästhetik Chiuris und positioniert seine erste Kollektion außerhalb des dicht getakteten Damenmode-Kalenders. Die Premiere seiner Womenswear ist für die Pariser Fashion Week im September angesetzt – eine Saison, in der zahlreiche hochkarätige Designwechsel bei Häusern wie Chanel, Gucci, Balenciaga, Loewe, Bottega Veneta, Versace und Jil Sander stattfinden.

Wenn Anderson im September seine erste Damenkollektion für Dior präsentiert, wird er bereits ein klares Statement gesetzt haben – und möglicherweise mit neuem Selbstverständnis und Rückenwind in die wettbewerbsintensivste Phase der Modesaison starten.

Dior
Jonathan Anderson