Die stille Taktgeberin: Wie Véronique Nichanian fast vier Jahrzehnte die Menswear von Hermès prägte
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In einer Branche, die sich unaufhörlich selbst erneuert, war Véronique Nichanian über Jahrzehnte hinweg ein Ruhepol. Als künstlerische Leiterin der Menswear bei Hermès prägte sie die Herrenmode des französischen Luxusmodehauses für fast 40 Jahre und blieb eine Konstante, während sich die Modewelt um sie herum mit wachsender Geschwindigkeit wandelte. Nun hört sie auf.
Dass ihre Abschiedserklärung ausgerechnet am Ende einer Saison kommt, die von Umbrüchen geprägt war, mag auf den ersten Blick beiläufig erscheinen, trägt jedoch Symbolkraft. Die Frühjahr/Sommer-Saison 2026 markierte mit 15 Designer:innen-Debüts einen spürbaren Generationswechsel – und endete mit Nichanians leisem Rückzug. Ein vergleichsweise stiller Abschied inmitten lauter Aufbrüche, der die Beständigkeit ihrer jahrzehntelangen Arbeit umso deutlicher hervorhebt.
Wahrhaft ‘stiller’ Luxus
In ihren 37 Jahren bei Hermès formte Nichanian eine Sprache, die gerade durch ihre Kontinuität relevant blieb. Ihre Mode war nie Selbstzweck, niemals bloßes Spektakel, sondern ein präziser, leiser Dialog mit dem Alltag und den Männern, für die sie eine Garderobe baute. „Quiet Luxury“ mag vor einigen Saisons ein Modebegriff gewesen sein, doch Nichanians Hermès war dessen lebendige Verkörperung – nicht auf performative Weise, um in den sozialen Medien zu gefallen, sondern durch das subtile Verständnis dessen, was sie für die Marke erschuf.
Hermès blieb dieser Haltung über Jahrzehnte hinweg treu. Dies zeigt sich nicht nur in der kulturellen, sondern auch in der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit des Hauses. Während viele Luxusmarken unter den aktuellen Marktbedingungen leiden, trotzt Hermès dem Trend. Im ersten Halbjahr 2025 verzeichnete das Kerngeschäft des Konzerns, Lederwaren und Sattlerei ein Umsatzplus von 11,3 Prozent auf 3,58 Milliarden Euro. Der Umsatz mit Bekleidung und Accessoires stieg um 4,3 Prozent auf 2,25 Milliarden Euro.
Dies ist ein Beleg dafür, dass leise Konsequenz und ein klarer Fokus auf Qualität auch in einem beschleunigten Markt Bestand haben können. Nichanians Handschrift war dabei ein integraler Teil dieses Erfolgs – nicht als alleiniger Treiber, sondern als stabiler, verlässlicher Puls innerhalb einer Marke, die sich konsequent weigert, kurzfristigen Moden hinterherzulaufen.
Ihre Entwürfe entwickelten sich, weil sich das Leben veränderte, nicht, weil der Markt es verlangte. Diese Fähigkeit, Zeit zu verlangsamen oder ihr zu trotzen, war vielleicht ihr und Hermès’ größter Luxus.
Eine Ära voller kreativer Freiheit
Bereits zu Beginn ihrer Karriere stand Nichanian an der Schwelle zu einem Wandel in der Modewelt. Als sie 1976 an der École de la Chambre Syndicale ihr Studium begann, hatte die Pariser Modeszene gerade begonnen, traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit in der Kleidung aufzubrechen. Yves Saint Laurent hatte 1966 als erster Couturier eine Prêt-à-porter-Linie unter eigenem Namen lanciert, und die legendäre „Battle of Versailles“ 1971 hatte die zunehmende Bedeutung von moderner, sportlich inspirierter Kleidung verdeutlicht. Dennoch dominierten die großen französischen Häuser wie Givenchy und Dior weiterhin mit ihrem Ideal von erhabener Eleganz, das auch die Ausbildung an der Schule prägte.
Nach ihrem Abschluss an der École de la Chambre Syndicale wechselte Nichanian ins Herrenmode-Segment und arbeitete für den italienischen Designer Nino Cerruti. Dort entdeckte sie ihre Begeisterung für die strukturelle Klarheit der Männermode und entwickelte ein tiefes Verständnis für Stoffe und Verarbeitung. In den Studios in Mailand und Paris sammelte sie wertvolle Erfahrung, verfeinerte ihren Blick für elegante Lässigkeit, bevor sie schließlich 1987 von Jean-Louis Dumas, dem damaligen CEO und künstlerischen Leiter von Hermès, kontaktiert wurde. In einem heutzutage undenkbaren Gespräch soll er ihr „volle kreative Freiheit“ zugesichert haben – ein Angebot, das sie annahm und das Hermès bis heute einlöste.
Und so blieb die Marke unter ihrer Leitung standhaft, in einer Ära der Beschleunigung, in der viele zwischen Pre-Fall-, Resort- und Capsule-Kollektionen taumeln. Hermès hielt an zwei Kollektionen pro Jahr fest, verzichtete auf Zwischenformate und auf hektisches Reagieren. Stattdessen stand handwerkliche Exzellenz im Mittelpunkt. Nichanian jagte keinen Trends hinterher, sondern baute ihre Entwürfe auf luxuriösen Stoffen und einer feinen Farbkomposition auf, Prinzipien, die sich konsequent durch Bekleidung, Schuhe, Accessoires und Uhren zogen.
Beständig, aber stets in Bewegung
Dennoch veränderte sich die Mode in den fast vier Jahrzehnten, in denen Nichanian Hermès leitete, und ihre Kleidung spiegelte diesen Wandel wider. Nicht in großen Statements zu Gender und dessen Verwischung, sondern in subtilen Details. Wenn die Zeit es erforderte, begann sie, Stoffe zu integrieren, die früher als feminin galten – Transparenz, Seide, fließende Drapierungen – eine diskrete Neuschreibung von Codes, die nie auf Provokation, sondern auf Evolution setzte.
Ähnlich passte sie in Zeiten der durch Covid-19 bedingten Lockdowns die Silhouetten an einen lockereren, zwangloseren Stil an, der sowohl zur Marke als auch zur Kundschaft passte.
Im Juli 2020 war Hermès eine der ersten Marken, die auf digitalen Laufstegen zurückkehrten – zwar ohne Publikum, mit einer deutlich reduzierten Anzahl von Looks (nur 18 statt der üblichen rund 40) und einem entspannten Stil, der bisher kaum mit der einst von der Reittradition inspirierten Kollektion assoziiert wurde.
Ihre wahre Stärke offenbarte sich wohl besonders in der Zeit nach Covid, als Marken versuchten, Vertrauen zurückzugewinnen und ihren Weg sowie ihre Kund:innen neu zu definieren. Nichanian erhob nie ihre metaphorische Stimme, sondern blieb fokussiert auf das Herzstück der Marke: handwerkliche Perfektion.
Und obwohl die Frühjahr/Sommer 2026 Kollektion nicht die letzte von Véronique Nichanian präsentierte Kollektion sein wird – diese Ehre gebührt der kommenden Herbst/Winter 2026 Kollektion – kann sie bereits als glanzvoller Abschied verstanden werden. Eine Kollektion, die noch einmal all das unterstreicht, wofür Nichanian und ihre Zeit bei Hermès wohl am meisten in Erinnerung bleiben werden: stille Eleganz, meisterhafte Handwerkskunst und die zeitlose Verbindung von Tradition und modernem Luxus.
Die Frühjahr/Sommer 2026 Kollektion setzte auf sanfte, monochrome Brauntöne, durchzogen von dezenten grünen Akzenten, kombiniert mit fließenden, atmungsaktiven Stoffen und präzises Tailoring. Besonders beeindruckend war einmal mehr die innovative Verarbeitung von Leder, das für die warme Jahreszeit durch offene Steppungen atmungsaktiv gemacht wurde.
Am Ende bleibt Nichanian, ganz wie das Haus Hermès, dem sie ihr Berufsleben gewidmet hat, eine zurückhaltende, aber prägende Größe. Ihre Präsenz zählte stets zu den leisesten, technisch jedoch eindrucksvollsten in der Modewelt. Sie stellte nie sich selbst in den Mittelpunkt, sondern ließ ihre Entwürfe sprechen – leise, präzise, kompromisslos. In ihnen zeigt sich ihre unverkennbare Handschrift: unaufgeregter Stil, tiefe Materialkenntnis und ein feines Gespür für Zeitlosigkeit.
Nichanian hat nicht nur Mode entworfen, sondern eine Haltung verkörpert – eine stille, beständige Eleganz, die jenseits von Trends Bestand haben wird. In einer Branche im ständigen Wandel bleibt sie hoffentlich als ruhender Pol in Erinnerung.