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Die schwierige Vergangenheit des Fashion-Wunderkinds Jonathan Anderson

Von FashionUnited

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Jonathan Anderson wuchs ganz in meiner Nähe auf, die Straße runter auf einem Bauernhof im Herzen Irlands, genannt ‚The Loup’ (gesprochen: Loop). Man kann die Familien, die dort leben an zwei Händen abzählen. Das Wetter ist regnerisch und das Land ist auf beinahe halluzinogene Weise grün. Und obwohl Irland viele bekannte Persönlichkeiten in verschiedenen Bereichen hervor gebracht hat, kann es doch nur wenige Fashion Darlings vorweisen. Dass ein gefeierter Modedesigner wie Jonathan Anderson aus dieser Gegend kommt, ist dort fast so unwahrscheinlich, wie drei aufeinanderfolgende sonnige Tage im Juli.

In einem Interview mit dem Guardian vom September 2015 sagte er: „Wenn ich mich zurückerinnere, dann stammt alles, was mich heute beeinflusst, aus der Zeit zwischen meinem 8. Und 15. Lebensjahr." Was genau ist es also, das Jonathan Anderson so besonders macht?

Im Business ist er erst seit 2008, doch sein Label mit sitz in London, J.W. Anderson hat in dieser kurzen Zeit eine Anhängerschaft versammelt, von der andere Labels nach der doppelten Zeit noch träumen. Zusammengenommen mit dem kommerziellen Erfolg, den sein Schaffen dem spanischen Luxushaus Loewe einbringt (Loewe ist älter als Louis Vuitton und Burberry und gehört zu LVMH) ist das Ergebnis nichts geringeres als ein modernes Mode-Märchen. Als die Gerüchteküche brodelte, Nicholas Ghesquière würde Louis Vuitton verlassen, wurde Anderson automatisch als möglicher Nachfolger gehandelt. Obwohl die Gerüchte schnell beendet wurden, haben uns doch die letzten Jahre gezeigt, dass es in diesen dingen selten Rauch ohne zumindest ein kleines Feuer gibt. Es bleibt abzuwarten, wie es für ihn weitergeht. Sein Name ist jedenfalls für kommenden Jahre um die prestigeträchtigsten Posten der Modebranche im Rennen – und das mit gerade einmal 31 Jahren.

Ein Produkt der ‚Troubles’

Sein Alter ist auch deshalb signifikant, weil er genau wie ich, inmitten einer interessanten Phase der Nordirischen Geschichte aufwuchs. Die Periode, die als ‚The Troubles’ in die Geschichtsbücher einging, beeinflusste mich und meine Generation sowohl psychologisch als auch kreativ. In einem Interview mit dem Purple Magazin beschreib Anderson diese Zeit als ‚sehr schwierig’. „Die Menschen vergessen manchmal, dass Nordirland ein sehr komplexes Land ist. Es befand sich im Kriegszustand. Obwohl es Teil des Vereinigten Königreichs war, gab es viele Unruhen. Meine Eltern leben noch dort und ich bin sehr froh, dort aufgewachsen zu sein. Es ist ein Land, in dem alles sehr persönlich ist. Die Menschen wollen einander helfen, auch wenn bestimmte Teile der Bevölkerung gegeneinander arbeiten.

Könnte das seinen Aufstieg erklären? Die Fähigkeit, sich auf Menschen um ihn herum zu verlassen und trotzdem das Vertrautsein mit Konflikten. Erfolgreich Aufgaben abzugeben und zugleich zu verstehen, dass Zusammenarbeit nötig ist, ist in der Modebranche sicherlich hilfreich.

Die Weigerung, sich anzupassen

Ein großer Teil seines Erfolgs, und auch dessen, was ihm Ansehen mit seiner Marke einbrachte, ist die Einzigartigkeit seiner Vision. Er zeigt kein Interesse daran, seiner Ästhetik einen Namen zu geben oder sie einzuordnen. Genderklischees lassen ihn ebenso kalt, wie die Tatsache, dass seine Kollektionen nicht immer gelobt wurden. Hauptsache, es wurde über sie geredet. Seine letzte Menswear-Show ließ er auf Grindr livestreamen. Kann diese archaische und unbeirrbare Art auf unsere gemeinsame Herkunft zurückgeführt werden?

In Nordirland wurde man in den letzten vierzig Jahren durch seine Religion und politische Einstellung definiert, ob man wollte oder nicht. Auf welche Schule man ging, welche Freunde man hatte, wo man lebte – sich einzufügen hieß, sicher zu sein. Als er in seinen späten Teenagerjahren wegzog, ähnlich wie ich, konnte Jonathan Anderson sich wohl zum ersten Mal von diesem einengenden Denken befreien und sich auf eine Grauzone einlassen. Allerdings waren auch seine Eltern ziemlich ungewöhnlich für unsere Gegend. Er wuchs in einem weder protestantischen noch katholischen Haushalt auf, seine Eltern waren nicht religiös. Diese Freiheit zwischen all dem Konformismus ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum er sich auch heute nicht festlegen lässt.

Dem Guardian erzählte er weiter „Autobomben, eine Stadt, die in die Luft flog, all diese Dinge waren für ein Kind sehr verwirrend, doch es hat mich abgehärtet. Ich nehme nichts als Gegeben, denn ich weiß, dass alles jeden Moment hochgehen kann.“ Diese Metapher lasst sich fast eins zu eins auf die Modebranche übertragen. Ein Pragmatismus, der sich in einer Umgebung, in der hoch dotierte Vertragsabschlüsse und unerwartete Kündigungen jederzeit eintreten können. Drei Jahre scheinen aktuell die durchschnittliche Lebensdauer eines Arbeitsvertrages in einem Luxushaus zu sein.

Bestimmung Mode

Sein Aufwachsen auf der Farm seiner Großeltern war auch unter anderen Aspekten keine typische Kindheit in einer Mid-Ulster Familie. Seine Großmutter hatte eine Nähmaschine und brachte ihm Patchwork bei, seine Eltern lebten nebenan und interessierten sich für Literatur und Sport. Seine Mutter war Englischlehrerin, die ihm die Klassiker vorlas und sein Vater ein Rugby-Coach, der 27 Mal an internationalen Spiele für Irland teilnahm. Dieser Mix aus akademischem Intellektualismus und wettbewerbsorientiertem Konkurrenzkampf muss seine formativen Jahre beeinflusst haben und findet sich sicherlich heute in seinen Kollektionen wieder.

Obwohl Jonathan Anderson von Kindesalter an eine Begeisterung für Mode an den Tag legte, war sie nicht seine erste Wahl. Er wollte zuerst Schauspieler werden und absolvierte eine Ausbildung der Darstellenden Künste. Anschließend reiste er nach Washington DC um dort am Studio Theater zu arbeiten. Dort verbrachte er aber die meiste Zeit im Kostümdepartment und wechselte den Karriereweg. Auch dieser Umweg schlägt sich in seinen Designs nieder. Ein Verständnis für Rollen, nicht nur, wie man Charaktere anzieht, sondern auch, wie man sie liest, ist eine Gemeinsamkeit der beiden Branchen. Ich kann persönlich dafür bürgen, dass es in The Loup ein große Auswahl an interessanten Charakteren gibt, die eine hervorragende Grundlage für eine Kollektion reich an Facetten bilden.

Hier und dort und auf Instagram

Zwischen London, Paris und Madrid zu pendeln stellt den wohl physisch erschöpfendsten Teil seiner Tätigkeit dar, noch dazu mit drei Telefonen ausgerüstet, eines für Loewe, eines für JW Anderson und eines privat. Ob er den Druck der internationalen Modeindustrie aushält, oder ähnlich an ihr scheitert wie viele seiner Kollegen, bleibt abzuwarten.

Jess Cartner-Morley vom Guardian versicherte er jedenfalls: „Brands müssen sich auf die Geschwindigkeit der Welt um sie herum einstellen. Wir leben in der Ära des Contents. Wir stellen etwas auf Instagram, dort wird es geshared und geliked, ist innerhalb von Minuten überall und dann verschwunden. Ich sehe das nicht als etwas Negatives. So funktioniert auch mein Gehirn. Es geht nicht nur darum, dass die Konsumenten nicht von der Brand gelangweilt werden, es geht auch darum, dass ich nicht von ihr gelangweilt bin.“

Sollte die Geschwindigkeit und der Content ihm doch einmal zu viel werden, dann kennt er einen ruhigen Ort, abseits von Paris, London und Madrid, der all den persönlichen Freiraum und die Ruhe bietet, die ein internationaler Mover and Shaker brauchen kann. Ich selbst verkrieche mich auch manchmal dort.

Gastautorin Jackie Mallon, unterrichtet an mehreren Modeschulen in NYC und ist die Autorin des Buches ‚Silk for the Feed Dogs’, einem Roman der in der internationalen Modebranche spielt.

Images: Jackie Mallon, J-W-Anderson.com and Loewe.com

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