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Desillusioniert von der Modekarriere: Profis teilen ihre Erfahrungen, Teil 2

Von Julia Garel

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Personen |INTERVIEW

Credit: Unsplash, Austin Ban

Die Modebranche ist ein begehrter Arbeitsmarkt, ein Traumberuf, der junge Menschen anzieht, aber auch manche abschreckt. Für FashionUnited erzählen vier Männer und Frauen, die große Modehäuser durchlaufen haben, von ihrer Ernüchterung mit ihrer Branche.

In Europa gibt es in der Bekleidungsbranche laut Zahlen von Euratex aus dem Jahr 2019 insgesamt 922.041 Arbeitsplätze. In Frankreich macht die Branche laut La Mode Française 2020 15 Milliarden Euro Umsatz. Hinter diesen Zahlen verbergen sich Jobs aus Leidenschaft, temporäre oder dauerhafte Existenzen, erfüllende oder im Gegenteil bedrückende Positionen. Enttäuscht, erschöpft oder müde von ihren Jobs, entscheiden sich einige Fachleute, diese Branche, die einst ein Traum für sie gewesen ist, zu verlassen oder zumindest einen anderen Weg zu finden. FashionUnited sprach per E-Mail mit diesen Modeprofis, für die dieses Umfeld irgendwann nicht mehr die Erfüllung war. Heute die Geschichte von S.*, einer ehemaligen Marketingfachfrau für große Namen der französischen Bekleidungsindustrie, die, um sich ungestraft äußern zu können, lieber anonym bleiben möchte.

In welcher Branche arbeiten Sie heute?

Ich praktiziere heute als Karrierecoach in Montreal und das ist genau das Richtige für mich. Ich coache auch Leute in der Modebranche und stelle fest, dass die Probleme hier in Kanada die gleichen sind wie in Frankreich.

Können Sie uns etwas über Ihren beruflichen Werdegang erzählen?

Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und der Betriebswirtschaftslehre war ich etwas ratlos, welche Richtung zu mir passen würde. Marketing schien mir ein guter Weg zu sein, weil es multidisziplinär ist. Ich wollte in der Welt des Luxus arbeiten, weil mich die Ästhetik, die Handwerkskunst, der Wert der Qualität eines Produktes angezogen hat. Das führte dazu, dass ich in einer Holding arbeitete, die mehrere Modehäuser besaß.

Also habe ich im Marketing und Lizenzmanagement für zwei Marken angefangen, in Paris. Nach ein paar Jahren wechselte ich das Unternehmen und nahm eine Stelle als Produktmanagerin bei einem anderen Bekleidungslabel, ebenfalls in Paris, an. Nach einem Burnout und dem tiefen Wunsch, ins Ausland zu gehen, folgte ich meinem Ehepartner nach Quebec, wo ich eine Stelle im Marketing bei Brioche Dorée in Montreal annahm. Nach drei Jahren entschied ich mich für den Jobwechsel zum Karrierecoach.

Was waren Ihre Gründe, nicht mehr in der Modebranche arbeiten zu wollen?

Dafür gab es viele Gründe. Zunächst einmal war es für mich eine Ernüchterung. Ich wusste natürlich, dass Mode ein Business ist, aber ich dachte, dass der künstlerische Aspekt und das Handwerk den Kern eines Modehauses ausmachen würden. Ich habe schließlich erkannt, dass es hauptsächlich um Schaufensterdekoration und Marketing ging. Die Kunstabteilung ist ein sehr kleiner Teil des Systems. Ich fühlte mich zwischen dem Design und der kaufmännischen Abteilung, die beide gegensätzliche Ziele verfolgten, festgefahren.

„Ich habe mich gefragt, wozu ich eigentlich beitrage. "

Andere Dinge, die mich dazu brachten, den Job zu kündigen, waren: der Mangel an Fürsorge – es war eine Umgebung, in der der Schein überwiegt und ich erhielt verletzende Kommentare, besonders als Junior – die Besessenheit mit Zahlen und Kostensenkungen, die Bezahlung – man arbeitet für eine alles andere als tolle Bezahlung und unter eher nicht gerade den besten Bedingungen – auch wenn das sicherlich nicht nur in der Modebranche der Fall ist.

Aus ethischer Sicht hatte ich das Gefühl, dass wir uns über die Qualität der Produkte lustig machen. Wir produzierten in Übersee zu sehr niedrigen Produktionskosten und mit der entsprechenden Qualität. Wir haben es gut verpackt verkauft, zu grotesken Preisen. Ich musste einen Teil des Kundendienstes leiten und die Beschwerden waren konstant. Nach einer Weile frisst es einen auf, besonders wenn man tief im Inneren weiß, dass der Kunde recht hat.

Letzen Endes fand ich keinen Sinn mehr in dem, was ich tat. Ich fragte mich, wozu ich wirklich beitrug.

Gibt es Aspekte der Modebranche, die Sie vermissen?

Ja, die kreative und künstlerische Seite der Branche, aber auch der Teamgeist. Ich vermisse einige meiner Kollegen. Ich hatte es geschafft, mich mit einem Team zu umgeben, das ich wirklich mochte. Sie sind mein einziger Grund, dem Job nachzuweinen.

Was hätte Sie zum Bleiben bewegen können?

Mehr Ethik, mehr Anerkennung, eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Bekleidungsgeschäfts. Heute ist das nicht anders als der Verkauf von Sandwiches. Ich weiß das, ich habe beides gemacht. Bis auf die Organisation der Shootings und der Show ist es im Grunde dasselbe. Und auch: Wenn ich meine Arbeit gut machen hätte können, aber das ist unmöglich, weil die Budgets immer zu knapp und die Fristen immer zu kurz sind.

Hatten Sie Schwierigkeiten, als Sie das Unternehmen verlassen haben oder als Sie umgeschult wurden?

Das Unternehmen hat versucht, mich zu halten, mit mehr Geld. Aber das war es mir nicht wert, meine innere Ruhe zu opfern.

Eine Umschulung hatte ich in Frankreich nicht vorgesehen. Franzosen sind sehr starr in ihrer Vorstellung von Beschäftigung. Ich glaube, ich hätte große Schwierigkeiten gehabt, hier als Coach anzufangen. In Nordamerika ist die Mentalität ganz anders und das hat mir sehr geholfen, den Mut zu finden, mit dem Coaching zu beginnen. Die ersten beiden Jahre waren schwierig, wie bei vielen anderen Start-ups auch. Wie auch immer, wenn man das findet, was einen antreibt und motiviert, schafft man es, durchzuhalten.

Wie sehen Sie die Zukunft? Haben Sie berufliche Pläne?

Ich möchte Menschen helfen, die bei der Arbeit unglücklich sind, das ist zu meiner Mission geworden. Ich möchte ein Buch schreiben, um so vielen Menschen wie möglich bewusst zu machen, wie wichtig es ist, auf eine innere Stimme zu hören und den Mut zu haben, das zu tun, was man liebt.

*Die Identität der Interviewten und ihrer beruflichen Laufbahn wurden überprüft.

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Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf FashionUnited.fr. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ
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