Es ist an der Zeit, die Victoria’s Secret Show abzuschaffen
Wird geladen...
New York - 2017 neigt sich dem Ende zu - das Jahr in dem Frauen, die über Unrecht, das ihnen widerfuhr, nicht mehr geschwiegen und so zum Sturz von Hollywood- und TV-Giganten sowie prominenten Politikern beigetragen haben. Doch es war auch das Jahr, in dem der Sturz eines Models bei der Victoria's Secret Fashion Show vom britischen Boulevardblatt Page Six , als „Der große Fall von China“ verspottet wurde, deren Kleid sich in ihrem Absatz verheddert hatte. Die geifernden Medien hofften umsonst auf einen entblößten Nippel und stürzten sich stattdessen auf die Nachricht, wie „würdevoll“ sie diesen „epischen“ und „skandalösen“ Sturz bewältigte. Der 'Superbowl der Mode', die Victoria's Secret Modeschau, war selten beschämender und mehr aus der Mode als in diesem Jahr.
Kulturelle Probleme
Die von der chinesischen Regierung abgelehnten Visa-Anträge für Gigi Hadid und eine Handvoll anderer Models sowie die Absage an Katy Perry wegen ihres Auftritts 2015 im Sonnenblumenkleid und taiwanischem Tuch waren nur einige der Beispiele für die Organisations- und PR-Malheure vor der Show in Shanghai. Aber vielleicht sind diese Ereignisse auch das Universum, das auf subtile Weise versucht, dem Unternehmen etwas zu flüstern: „Victoria's Secret, deine Zeit ist um"? Offensichtlich hat man bei der Unterwäsche-Kette den Hinweis nicht verstanden, weil Subtilität dort nicht gerade hoch im Kurs steht. Im Gegenteil: Bei der diesjährigen Unterwäscheparade im Las Vegas-Stil Parade, wurden Ornamente amerikanischer Ureinwohner mit Orientalismus-Anleihen und Massai-Perlenstickereien kombiniert, um die konfettigroßen Kleidungsstücke der Modenschau zu zieren. Und das trotz jährlich wiederkehrender Empörung um die wenig taktvolle kulturelle Aneignung der Marke. Gerade letztes Jahr war ein Engel in einen Drachen eingewickelt - ein kulturelles Symbol Chinas - vielleicht ist es daher wenig überraschend, dass die Regierung des Landes in diesem Jahr zurückgeschlagen hat. Um die Model-Ausfälle zu kompensieren hat die Marke in diesem Jahr sechs chinesische Models auf den Laufsteg geschickt, das sind zwei mehr als letztes Jahr.
Die Message richtig deuten
Das dürfte auch daran liegen, dass das Unternehmen seinen Neon-beleuchteten Karneval der Nicht-Inklusivität dort weiter ausbaut: Victoria's Secret eröffnete im März seinen ersten Flagship-Store in Shanghai. Der boomende chinesische Markt dürfte selbstredend sehr profitabel für das Unternehmen sein. Ansonsten bleibt die bewährte Victoria’a Secret-Formel auch im Jahr 2017 für hauptsächlich weiße Frauen recht beständig: Viel Brust und schlanke Hüften sind immer noch das vorherrschende Ideal, das es zu haben gilt, wenn man Flügel bekommen will.
In Trumps Amerika kann diese Show kaum von Empowerment zeugen. Dass diese verschnörkelt zurechtgemachten Barbies, von ihren olympischen Trainingsregimes prahlend, in vergoldete Flügel und einen 600-Karat-beschichteten Kristall-Fantasy-BH schlüpfen, um damit zwei Minuten über den Laufsteg zu stolzieren, ist nichts weiter als eine hohle Phrase. Es ist nicht die Erhebung von Frauen zu Göttinnen, sondern ganz im Gegenteil, ihre Erniedrigung. Die Show fördert einen weiblichen Icarus-Typus, der nicht zu tief fliegen (es sind schließlich Engel), aber noch weniger zu hoch steigen darf, sonst verbrennt er sich.
Aus dem Takt, aus dem Sinn
Laut Refinery29 sollen 2016 1,4 Milliarden Zuschauer das Event gesehen haben, das entspricht etwa 19 Prozent der Weltbevölkerung in 196 Ländern. Das veranlasst mich zu der Schlussfolgerung, dass es immer noch viele gibt, die sich dafür interessieren, einer patriarchalisch sanktionierten Vorstellung von weiblicher Ermächtigung zuzusehen, zumindest zwecks des Unterhaltungswertes. Aber die wachsende Zahl jener, die dies nicht befürworten, meldet sich zusehends zu Wort und das ist es, was zählt. L Brands, zu dem Victoria's Secret gehört, kämpfte im gesamten Jahr 2017 mit rückständigen Verkaufs- und Aktienkursen. Allein im November verlor es 6 Prozent der Marktanteile an Konkurrenten wie Aerie, ein Unternehmen, das mit seiner Werbekampagne Aerie Real für Schlagzeilen sorgte, weil darin eine vielfältige und frauenfreundliche Message gesendet wurde. Victoria's Secret meldete einen Umsatzrückgang von 11 Prozent im Vergleich zum vergangenen Jahr. Während Studentinnen früher zu Victoria's Secret strömten, um sich Spaß und bezahlbare Dekadenz zu leisten, sucht der heutige, komfortgetriebene Millennial seinen Lieblingsartikel, die Bralette, bei der Marke vergebens zwischen Bügel- und gepolsterten BHs. Victoria's Secret liegt nicht nur im Zweispalt mit der heutigen Kultur, sondern mit seinen Kunden.
In der Zeit stehengeblieben
Von Entertainment-Medien-Kanälen als "die meisterwartete Modenschau des Jahres“ betitelt, hat das Spektakel allerdings wenig bis gar nichts mit Trends zu tun. Die immergleichen kleinen Stoffdreiecke sind genietet, gefiedert, mit Bändern, Quasten und Pailletten versehen und werden kombiniert mit Over-the-knie-Superheldinnen-Stiefeln. Eine Formel so repetitiv, dass ein Jahr über das andere gelegt werden könnte. Auf einer "Happening"-Ebene ist die Show kaum vergleichbar mit beispielsweise dem Debüt von Raf Simons bei Calvin Klein. Man könnte es sagen, Victoria’s Secret hat so viel mit Mode zu tun, wie die Bademoden des Miss Universum-Wettbewerbs. Und in Sachen Vielfalt, wo die New York Fashion Week in diesem Jahr echte Fortschritte machte, scheint sich Victoria’s seit 2009 nicht weiterentwickelt zu haben. Zu einer Zeit, in der echte Darstellungen von Frauen in den Medien angekommen sind, schneiden die Engel als flüchtig, ephemer und schwach ab.
Wie sich in diesem Jahr heraus gestellt hat, brauchen Frauen keine Flügel - schon gar keine mit Pailletten - und das ist längst kein Geheimnis mehr.
Dies ist eine Übersetzung eines englischen Beitrags von Jackie Mallon. Jackie Mellon lehrt Mode in New York und ist die Autorin des Buches ‚Silk for the Feed Dogs’, ein Roman, der in der internationalen Modeindustrie spielt.
Aus dem Englischen von Barbara Russ
Alle Fotos von der Autorin. Headerbild: Jewel Samad / AFP