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Epstein-Affäre: Unbeantwortete Fragen auch für die Modeindustrie

Von Herve Dewintre

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Mode |KOMMENTAR

Der Fall Harvey Weinstein hat eine soziale Bewegung in Gang gesetzt, die in den Jahren nach dem Bekanntwerden des Skandals Ende 2017 kaum an Brisanz verloren hat. Die nicht enden wollende Liste von Anschuldigungen über sexuelle Übergriffe in den Medien und in sozialen Netzwerken, ist ein Beweis für die Kraft der Metoo-Bewegung. Die meisten dieser Anschuldigungen, so muss festgehalten werden, sind bisher unbestätigt. Im Moment kommen sie von mutmaßlichen Opfern, mutmaßlich ist dabei das Schlüsselwort. Es hat kein Prozess stattgefunden und es wurde kein Urteil gefällt. Dies gilt für den Fall Weinstein, ebenso wie für andere Akteure der Modebranche, die wegen sexueller Belästigung angeklagt wurden, darunter Mario Testino, Bruce Weber und Terry Richardson.

Bedeutet der Mangel an vollstreckten Urteilen, dass sich nichts geändert hat? Natürlich nicht. Erstens sind die Akteure der Modeszene, denen sexueller Missbrauch vorgeworfen wird, derzeit arbeitslos. Trotz des bisherigen Fehlens von Urteilen gegen sie sind Mario Testino, Bruce Weber und Terry Richardson aus der Branche verschwunden. Darüber hinaus haben sich die Standards verschoben: In den frühen 2000er Jahren herrschte der Trend des "Pornochics" in der Mode, heute wird er von neuen Kernwerten wie Empowerment, Dekonstruktion, Inklusion und Feminismus überlagert. Das alte französische Sprichwort: "Sois belle et tais toi" ("Sei still und sei schön) ist heute veraltet.

Um zu überleben, müssen Modemarken ihre Essenz an diese neue Skala sozialer Werte anpassen. Das jedoch ist oft eine Gratwanderung. Ein perfektes Beispiel ist der Designer Hedi Slimane: Bei ihm reichte es aus, dass eine Laufstegshow, als “zu sexy” eingestuft wurde, um (hauptsächlich von angelsächsischen Journalisten) der Frauenfeindlichkeit beschuldigt zu werden. Nach seiner SS19-Show für Celine wurde er als "Donald Trump der Mode" bezeichnet. Als Ergebnis dieser öffentlichen Kritik änderte der Designer seine inhaltliche Aussage, um sich der neuen Werteskala anzupassen.

Modeplayer, die mit Epstein in Verbindung gebracht werden, werden von der öffentlichen Meinung verurteilt

Die meisten bisher gefällten Urteile wurden von der Öffentlichkeit und nicht von Gerichten entschieden. Der Fall Jeffrey Epstein ist jedoch ein Wendepunkt. Hier ist der Grund.

Der milliardenschwere Finanzinvestor Jeffrey Epstein wurde nach seiner Verhaftung am 8. Juli nun am 10. August tot in seiner Zelle gefunden. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, dass es sich um Selbstmord handelte. Dieser Selbstmord mit all den damit verbundenen Verschwörungstheorien hat das öffentliche Interesse weiter angeschürt. Die Vorwürfe, die zur Verhaftung des Milliardärs führten, waren schwerwiegend: Ihm wurde der Sexhandel mit Minderjährigen - im Alter von vierzehn Jahren - vorgeworfen. Der Daily Telegraph berichtet jedoch, dass einige der Mädchen, die gehandelt worden sein sollen, lediglich zwölf Jahre alt gewesen seien. Dieser schmutzige Sexskandal erschüttert die Vereinigten Staaten und Europa gleichermaßen.

In Frankreich hat deshalb Marlène Schiappa, französische Staatsministerin für Gleichstellung der Geschlechter, öffentlich eine Untersuchung über den mutmaßlichen Kindersexhändler in Auftrag gegeben. Dieser soll auf französischem Boden eröffnet werden, da vermeintliche Verbindungen zwischen Epstein und Frankreich aufgedeckt worden seien. Schiappa wurde sofort von der Justizministerin Nicole Belloubet korrigiert: Sie erinnerte daran, dass die Einleitung einer Untersuchung nicht durch einen Regierungsantrag möglich sei, da die Justizbehörde unabhängig von dieser arbeite.

Sowohl in den USA als auch in Frankreich ist sich die Öffentlichkeit jedoch einig, dass die mutmaßlichen Opfer ohne Prozess nicht in der Lage sein werden, den erlittenen Schaden aufzuarbeiten.

Dieses für die Opfer grundlegende Konzept der Aufarbeitung ist das wichtigste Element, das sich aus dieser dunklen Angelegenheit ergibt. In den letzten zwei Jahren der #MeToo-Bewegung ging es darum, Persönlichkeiten wie Epstein öffentlich zu denunzieren und ihre Verbrechen als eine Form der allgemeinen Katharsis öffentlich bekannt zu machen. Die Vorwürfe waren oft schon Teil des Heilungsprozesses. Doch jetzt hat Jeffrey Epsteins Selbstmord die Opfer eines Urteils beraubt, was zu einem öffentlichen Aufschrei von Wut und Frustration geführt hat. Diese Welle der Empörung gibt sich nicht mehr mit Anklagen zufrieden, sie fordert Gerechtigkeit. In diesem Fall verlangt sie einen Prozess, nicht durch die Öffentlichkeit, sondern vor den Gerichten, dem einzigen Ort, an dem eine wirksame Justiz geleistet werden kann.

Ein Toter kann nicht verurteilt werden.

Mit einer amerikanischen Untersuchung ist zu rechnen (eine FBI-Razzia fand am 12. August auf der privaten karibischen Insel des Milliardärs statt), aber es muss noch einmal betont werden: Jeffrey Epstein ist tot, also kann man ihn nicht verurteilen, er wird nie für schuldig erklärt werden, da er sich nicht verteidigen kann. Also, was wird passieren? Auf der Suche nach Gerechtigkeit werden sich die öffentliche Meinung, die Rechtsinstitutionen und die Medien auf die Bekannten des Milliardärs konzentrieren, die am Leben sind und angeklagt werden können. Unter diesen Bekannten finden sich auch Namen aus der ersten Reihe der Welt der Mode.

Einige dieser Persönlichkeiten stehen im Licht der Fahnder. In den letzten Ausgaben von Le Figaro, Marie Claire, Huffington Post, Mediapart und Vanity Fair zeigen die Publikationen mit dem Finger auf Les Wexner, Besitzer von L Brand (der Muttergesellschaft von Victoria's Secret). Der Franzose Jean-Luc Brunel bekommt allerdings die meiste Aufmerksamkeit von den Medien. Der Modelagent, dem vorgeworfen wird, einer der Hauptlieferanten von gehandelten Mädchen für Epstein gewesen zu sein, ist in der Modewelt ein alter Bekannter. Seine Agentur MC2 hat ihren Sitz in Miami, aber das war nicht immer der Fall.

Der Mann, der heute in seinen Siebzigern ist, begann seine Karriere in Paris und leitete die Agentur Karin Models, wo seine unethischen Geschäftspraktiken allgemein bekannt waren, bevor er schließlich von der Öffentlichkeit angeprangert wurde. Im 1995 erschienenen Buch "Model: The Ugly Business of Beautiful Women' des Journalisten Michael Gross, in dem er Jean-Luc Brunel, mit diesen Worten beschrieb: "Sein Problem ist, dass er genau weiß, was Mädchen in schwierigen Situationen suchen. Jean-Luc mag Drogen und stille Vergewaltigung. Das ist es, was ihn begeistert." Gross schreibt weiter: "Es gab eine kleine Gruppe, Jean-Luc, Patrick Gilles und Varsano.... Sie waren in Paris bekannt dafür, dass sie Runden durch die Clubs machten. Sie luden Mädchen ein und mischten heimlich Drogen in ihre Getränke. Alle wussten, dass sie widerliche Dinge taten." Zoë Brock, ein in den 90er Jahren in Paris geborenes Modell aus Neuseeland, schrieb sehr explizit in einem 2017 veröffentlichten Artikel: "Mein Agent hieß Jean Luc Brunel. Er versuchte, mit mir zu schlafen, als ich ein Kind war. Er hat mich betäubt. Es ist höchste Zeit, dass das herauskommt."

Im Jahr 2005 gründete der französische Agent seine amerikanische Agentur mit Jeffrey Muller. Laut Mediapart investierte Jeffrey Epstein 2 Millionen Dollar in diese neue Einheit. Heute wird Brunel vorgeworfen, seine Position bei MC2 für die Erteilung von Visa an junge Mädchen genutzt zu haben, um diese an wohlhabende Freunde, darunter auch Epstein selbst, zu liefern. Brunel bestreitet dies, trotz einer Lawine an Aussagen, die dies zu bestätigen scheinen.

Wir können nicht urteilen oder verurteilen. Dennoch können wir Bilanz ziehen: Immer wieder öffentliche Anschuldigungen seit 1995, die, bis heute, noch nicht zu einer Verurteilung geführt haben. Dies könnte darauf hindeuten, dass entweder die Anschuldigungen unbegründet sind, dass Gerechtigkeit noch folgen kann (was unwahrscheinlich erscheint), dass der Weg zur Gerechtigkeit lang ist (was wahrscheinlicher scheint), oder dass diese wohlhabenden, einflussreichen Menschen alles daran gesetzt haben, diese Geschichte zu vertuschen.

Der Selbstmord von Jeffrey Epstein wird den Opfern zweifellos alte Wunden aufreißen. Die Anschuldigungen, die in der Öffentlichkeit seit Monaten zirkulieren, werden nicht mehr ausreichen. In sozialen Netzwerken wird die Heuchelei von Enthüllungen ohne Handlungen oder Folgen angeprangert, und es ertönt ein Ruf nach Gerechtigkeit. Diesmal scheint es sicher, dass die Kläger mit dem Druck der negativen öffentlichen Meinung ein umfassend geprüftes Gerichtsverfahren bekommen werden.

Wenn Sie oder eine Person, die Sie kennen, sexuell belästigt oder missbraucht wird, rufen Sie bitte unter 0800-22 55 530 an.

Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.uk veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ

Photo : STEPHANIE KEITH / GETTY IMAGES NORTH AMERICA / AFP

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