DMI Fashion Days: Wie kann die Mode Schein und Sein in Einklang bringen?
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„Authentizität ist die Währung des Augenblicks“, sagte Carl Tillessen gleich zu Beginn seiner Zeitgeist-Analyse des Deutschen Mode-Instituts (DMI) für die Saison Herbst/Winter 2027. Das Wort Authentizität mag lange als leere Worthülse belächelt worden sein und schwebte meist lediglich im Marketingkontext oder im Zusammenhang mit Influencer:innen durch den Raum, wird nun jedoch zur existenziellen Voraussetzung. Nicht nur für Relevanz, sondern auch für den Erfolg von Modeunternehmen und die dafür unerlässlichen Kaufentscheidungen der Kund:innen.
Die Präsentation, die Tillessen beim diesjährigen Online Fashion Day hielt, stand unter dem Leitmotiv „Certificate of Authenticity“ – ein Begriff, der in einer zunehmend polarisierenden Welt, die zwischen Filterblasen und Fake News schwankt, Echtheit als neues Must-have definiert. Doch was versteht eine Branche, die sich historisch oft über Inszenierung definiert hat, unter Echtheit? Und wie erhält eine Marke das sogenannte „Zertifikat der Authentizität“?
Wie funktioniert Authentizität?
„Jeder will authentisch sein – aber keiner weiß genau, wie man das wird", gesteht Tillessen. Der Wunsch nach Echtheit sei zwar omnipräsent, gleichzeitig sei der Begriff jedoch überstrapaziert und zum Modewort geworden. Dem Begriff nun wieder seine ursprüngliche und wahrhaftige Bedeutung zuzuweisen ist demnach nicht so einfach, wie man denken könnte. „Per Definition empfinden Menschen etwas als authentisch, wenn der Schein mit dem Sein übereinstimmt", zitiert der Trendforscher die ursprüngliche Herkunft des Begriffs und legt zugleich das derzeitige Dilemma offen. Viele Marken verließen sich lange auf ihren Schein, das eigentliche Sein wurde nicht nur vernachlässigt, sondern gar vergraben.
Nun muss beides wieder in Einklang gebracht werden, denn die Kongruenz – zwischen dem, was man zeigt, und dem, was man ist – sei heute mehr denn je gefragt. Es gehe um eine neue Ehrlichkeit, die das Vertrauen der Konsument:innen zurückgewinnt. Und Vertrauen, so Tillessen, sei die Voraussetzung dafür, dass Menschen bereit sind, Geld auszugeben.
Dem DMI ist dieser Wertewandel und das Verlangen der Konsument:innen nach Authentizität messbar. So geben fast 80 Prozent der Gen-Z-Kund:innen an, dass es ihnen wichtiger als je zuvor ist, von vertrauenswürdigen Marken zu kaufen. Über alle Altersklassen verteilt ist mehr als die Hälfte der Konsument:innen bereit, mehr für Marken zu zahlen, denen sie vertrauen. Sprich, jenen, die sie als authentisch wahrnehmen. 67 Prozent der Kund:innen erklären zudem, dass sie Marken, denen sie vertrauen, auch langfristig die Treue halten.
Grund genug sich damit zu befassen, was Kund:innen als ‘vertrauenswürdig’ empfinden, denn in den meisten Fällen geht es dabei nicht nur um Ehrlichkeit im engeren Sinne, oder gar um bloße Qualitätsmerkmale, sondern um eine umfassende Authentizität. Dieses neue Bewusstsein verlangt Marken nicht nur Transparenz ab, sondern Integrität. Wer sich zu seiner Geschichte und insbesondere seiner Herkunft bekennt – inklusive Brüche und Widersprüche – hat mehr denn je die Chance auf emotionale Resonanz.
DNA als Kapital
Echtheit steht derzeit also hoch im Kurs. Aalglatte Erfolgsgeschichten weichen der Unverstelltheit, denn es geht nicht mehr darum, die schönste Geschichte zu erzählen, sondern die wahre, so Tillessen. Die Zeiten des Hochglanzes scheinen vorerst vorbei und insbesondere die jungen Konsument:innen sympathisierten mit sogenannten „Underdog-Perspektiven“ und narrativer Tiefe. Eine Haltung, die Designer:innen wie Willy Chavarria oder Grace Wales Bonner zu neuen Branchengrößen gemacht hat. Chavarria, der Sohn eines mexikanischen Einwanderers, thematisiert in seiner Mode die prekären, aber stolzen Realitäten der Latinx-Community in den USA. Bonner wiederum verwandelt ihre ganz persönliche Migrationsgeschichte in Mode, die „europäisches Erbe mit einem afro-atlantischen Geist durchdringt“. Was zunächst wie ein Nischenthema erschien, wurde dank ihrer Authentizität zum Mainstream – und der deutsche Sportartikler Adidas wollte in beiden Fällen ein Stück dieses Erfolgs abhaben und kollaborierte mit den jungen Talenten.
Insbesondere im Fall von Wales Bonners Zusammenarbeit mit Adidas zeigt sich, welche Wirkung in der eigenen Realität verwurzelte Geschichten heute entfalten können. Die Designerin bestand darauf, dass das Sneaker-Modell Samba das Herzstück ihrer Kooperation mit dem Sportartikelhersteller sein solle. Obwohl Adidas anfangs zögerte, verhalf Bonners glaubwürdige und authentische Geschichte und Inspirationsquellen dem Schuh – und der Marke – zu einem unglaublichen Comeback. Dass eine scheinbar „unbekannte“ Newcomerin einen Weltkonzern zu neuen Höhen führen kann, zeigt eindrücklich, welche Kraft authentische Geschichten derzeit haben – und dass diese Geschichten fast immer in der Herkunft einer Marke oder Person verwurzelt sind.
Auch in den aktuellen Modekampagnen internationaler Häuser spiegelt sich dieser Fokus auf Herkunft. Von den zehn besten Kampagnen des vergangenen Jahres, wie sie das Fachmedium The Impression kürte, feierten sieben die Herkunft der jeweiligen Marke – ein deutliches Signal für den Stellenwert echter, historisch verwurzelter Erzählungen.
Das Hadern mit der Herkunft
Das Streben nach Authentizität stellt deutsche Marken vor eine besondere Herausforderung – vor allem dann, wenn es um Herkunft und Geschichte geht. „Viele deutsche Marken haben ihre Identität in der Vergangenheit bewusst verschleiert“, erklärt Carl Tillessen. Eine Entscheidung, die lange Zeit nachvollziehbar schien. Denn während Frankreich seine Handtaschenmythen pflegte und Italien seine Schuhgeschichte inszenierte, hatte Deutschland modisch gesehen wenig vorzuweisen. Und so fragt Tillessen pointiert: „Und was erzählen wir in Deutschland? Dass unsere Marken mal französisch klangen?“
Eine überspitzte Frage – und doch nah an der Realität. Denn tatsächlich waren viele deutsche Modeunternehmen jahrzehntelang damit beschäftigt, ihre Herkunft zu kaschieren: René Lezard, Strenesse, Esprit, Escada – wohlklingende Namen mit anglo-französischer Fassade, geboren aus dem Wunsch nach internationalem Flair. Doch mit dem Aufkommen des Internets kam die Ernüchterung. „Das Netz wirkt wie ein Lügendetektor“, so Tillessen. Was einst als cleveres Branding galt, wurde zur Hypothek. Markenidentitäten, die auf Fiktion beruhen, wirken heute unglaubwürdig. Ein Umstand, den auch die Entwicklung vieler dieser Unternehmen widerspiegelt, denn sie haben massiv an Relevanz verloren, einige mussten sogar Insolvenz anmelden.
All das ist allerdings kein Grund zum Trübsalblasen, oder zum Aufgeben, denn es gibt auch Beispiele für gelungene Kurskorrekturen. So erfand der italienische Schuhhersteller Tod’s ursprünglich eine US-amerikanische Gründungsgeschichte, nur um im Zuge der Digitalisierung einen radikalen Strategiewechsel einzuleiten. Statt des Westküste der USA stand nun die ‘Italian lifestyle DNA’ im Mittelpunkt und der Konzern begann, seine tatsächliche, in Italien verwurzelte Markengeschichte zu kommunizieren, die Tod’s bis heute prägt und erfolgreich macht. Auch deutsche Marken begannen, ihre Herkunft nicht länger zu verschleiern, sondern bewusst neu zu erzählen – mit spürbaren Erfolgen.
Heidemarie Jiline Sander setzte mit Jil Sander zwar auf einen anglophon angehauchten Namen und konnte sich somit international positionieren, erkannte jedoch schnell, dass Herkunft sich nicht leugnen lässt – wohl aber neu kontextualisieren. Sander besann sich auf die deutsche Designtradition, insbesondere das Bauhaus, und machte als „Queen of Less“ die funktionalistische Gestaltung zum Markenkern ihrer bis heute international gefeierten Ästhetik. „Sander hat nicht nur ihre Herkunft angenommen, sondern sie aktiv ins Positive umgewertet“, betont Tillessen.
Vielleicht also liegt der Erfolg letztlich darin, die richtige Seite der eigenen Geschichte zu finden – und sie mutig zu erzählen. „Die beste Markengeschichte ist keine erfundene, sondern eine gefundene”, so der Trendforscher abschließend. Marken tun künftig gut daran, sich nicht länger zu verstellen, sondern sich zu ihren Wurzeln zu bekennen – und das nicht nur als Pflichtübung.