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„Detox Society“ für SS26: Modischer Neubeginn mit Intellekt und Achtsamkeit

Von Jule Scott

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Mode
JW Anderson SS25 Credits: ©Launchmetrics/spotlight

Die Mode spiegelt die Sehnsüchte und Herausforderungen der Gesellschaft wider – und wenn die Zeiten düsterer werden, suchen wir verstärkt nach Licht. In einer Ära, die von Fake News, endlosem Doomscrolling und einer allgegenwärtigen Negativitätsverzerrung geprägt ist, wird ein dringender Neustart unabdingbar.

Die vom Deutschen Mode-Institut präsentierte Zeitgeist-Analyse für die kommende Frühjahr/Sommer Saison setzt genau hier an. Trendforscher und DMI-Geschäftsführer Carl Tillessen plädiert beim Online Fashion Day für eine „Detox Society“ und damit für den dringenden Wunsch nach einer Entgiftung – sozial, digital und ästhetisch.

Die Mode scheint das Plädoyer des Trendforschers erhört zu haben, denn nach Jahren der visuellen Reizüberflutung und einem Übermaß an Social-Media-getriebener Oberflächlichkeit erlebt diese für SS26 eine Renaissance von Werten, Intellekt und Achtsamkeit. Die jüngsten Kollektionen bewiesen bereits, dass Designer:innen sich auf Inhalte und Substanz besinnen und uns ein Gegenmittel zu den toxischen Einflüssen digitaler Dynamiken präsentieren.

Intellektualismus als Heilmittel

Die Mode der kommenden FS26-Saison erhebt innere Werte zur obersten Maxime. Erste Schritte in die richtige Richtung wurden bereits in der vorhergehenden Sommersaison unternommen. So setzte etwa das italienische Label Del Core literarische Bezüge in den Mittelpunkt und entwarf Mode für eine fiktive Wissenschaftlerin, die das Haus nicht ohne Werke von Autorinnen wie Hannah Arendt und Susan Sontag verlassen würde. Eine Wahl, die verdeutlicht, dass Intellekt und Bildung künftig mehr denn je wie kein anderes Accessoire kleiden.

Del Core SS25 Credits: ©Launchmetrics/spotlight

Bücher werden somit zu essenziellen Stilmitteln, und Sontag findet gleich mehrfach Anklang in weiteren Kollektionen. So ließ sich etwa auch Jonathan Anderson für seine Loewe-Kollektion von Sontags Werk Against Interpretation inspirieren.

Der Designer ging noch einen Schritt weiter und integrierte literarische Zitate in die Strickwaren seines eigenen Labels J.W. Anderson. Das britische Label Erdem führte diese Idee fort, indem es Buchcover als Etiketten in Designs einarbeitete – ein weiterer Beweis dafür, dass das gedruckte Wort zum zentralen Motiv avanciert.

JW Anderson SS25 Credits: ©Launchmetrics/spotlight

Diese Hommage an literarische Inspiration zeugt von einer Bewegung, die sich bewusst gegen die Oberflächlichkeit visueller Medien stellt, wendet sich jedoch auch von Onlinemedien ab und hin zur fast schon altertümlich wirkenden, im Zeitalter rapide schwindender Printpublikationen selten gewordenen Zeitung. Kein Wunder also, dass die klassische Presse, die in diesem Kontext als bewusster Kontrapunkt zur oft manipulativen Dynamik digitaler Plattformen gewertet wird, nicht nur in der ersten Reihe der Modenschauen präsent ist, sondern auch auf den Laufstegen ihren Platz findet.

Bei Miu Miu waren die Plätze der Gäste mit Zeitungen dekoriert, und die Location erinnerte an eine Druckerei, in der die neueste Ausgabe förmlich durch den Raum schwebte. Auch Stella McCartney griff dieses Motiv auf. Die britische Designerin inszenierte Zeitungen als Accessoires, die von den Models in Händen oder Taschen getragen wurden. Unterm Strich scheint es jedoch egal, ob als dekoratives Gestaltungsmittel im Raum oder als Accessoire in den Händen der Models – das Medium der Vergangenheit wird zur Mode der Zukunft.

Stella McCartney SS25 Credits: ©Launchmetrics/spotlight

Saint Laurent unterstreicht diesen Trend zudem mit seiner jüngsten Kampagne, die Bücher und lesende Models ins Rampenlicht rückt. Lesen, und das geschriebene Wort, wird also nicht nur als ästhetischer, sondern auch als intellektueller Akt neu zelebriert – ein Gegenentwurf zur schnelllebigen Konsumkultur.

Vom Gigantismus zur Intimität

Die Art des Erzählens wird allerdings nicht nur durch Romanheld:innen und Starautor:innen, sondern auch von einer entschleunigten Art der Inszenierungen geprägt. Wo zuvor visuelle Reizüberflutung und das Streben nach maximaler Aufmerksamkeit dominiert haben, setzt sich nun ein Trend der Entschleunigung und bewussten Inszenierung durch. Diesen Wandel treibt vor allem eine wachsende Sehnsucht nach Authentizität und Detailverliebtheit an – maßgeblich geprägt durch ein Umdenken der bisherigen Mechanismen der sozialen Medien.

„In den zurückliegenden Jahren war in den Inszenierungen von Modenschauen die visuelle Reizüberflutung im Netz und die damit verbundene Fahrigkeit oft zur einzig zeitgemäßen Grundhaltung der Welt gegenüber erhoben worden”, so Tillessen. Doch das ändert sich jetzt, denn auch wenn die großen Modenschauen weiterhin ein Spektakel von schier überwältigender Pracht lieferten – Laufstege aus 1000 Original-Koffern bei Louis Vuitton oder ein riesiger Vogelkäfig bei Chanel – waren es vor allem die kleinen, charmanten Details, die in Erinnerung blieben.

Beste Beispiele hierfür gab es bei Bottega Veneta und Loewe, wo liebevoll gestaltete Details wie gehäkelte Blumen oder handgefertigte Taschenanhänger zu heimlichen Stars wurden. Es sind diese kleinen, charmanten Akzente, die in Erinnerung bleiben und die Herzen der Betrachter:innen erobern. Der Fokus verschiebt sich von pompösen Inszenierungen hin zu den „Nebensächlichkeiten“, die Tiefe und Persönlichkeit ausstrahlen und dabei nicht nur Beispiele für Kunstfertigkeit, sondern auch Symbole eines Paradigmenwechsels sind. Weg vom Gigantismus, hin zu einer intimen, zugänglichen Ästhetik.

Bottega Veneta SS25 Credits: ©Launchmetrics/spotlight

Diese Verschiebung spiegelt sich auch in der Präsentation selbst wider. Wo einst eine Übersättigung durch visuelle Effekte das Ziel war, herrscht nun Ruhe und Konzentration. Alessandro Micheles Wandel – von Gucci zu seinen aktuellen Arbeiten bei Valentino – ist ein exemplarisches Beispiel. Seine neuen Kollektionen laden dem Trendforscher zufolge dazu ein, innezuhalten, Details wahrzunehmen und die stillen Geschichten hinter den Entwürfen zu entdecken.

Mode, einst der Schauplatz für das größte Spektakel, wird im Frühjahr/Sommer 2026 demnach wieder zunehmend zur Bühne für stille Geschichten. Es ist ein Ausdruck unserer Zeit, denn in einer Welt, die immer lauter und schneller wurde, gewinnt das Leise, das Sanfte und das Echte eine neue Bedeutung, so Tillessen, der diese Entwicklung als Selbstschutzmechanismus gegen die toxischen Nebenwirkungen von Social Media deutet.

Carl Tillessen
DMI
SS26
Trends