Couture hautnah: handgestickte Kreationen des indischen Designers Rahul Mishra
21. Apr. 2025
Der indische Designer Rahul Mishra braucht keine Einleitung: Seine handgestickten Designs lassen sich von der Natur inspirieren, bevor sie sich in fantasievolle Kreationen verwandeln. Er war der erste indische Designer, der 2014 auf der Mailänder Modewoche den International Woolmark Prize gewann und 2020 zur Haute Couture Week in Paris eingeladen wurde. Sowohl mit seinem gleichnamigen Couture-Label als auch mit seiner Prêt-à-porter-Marke AFEW Rahul Mishra hat er große Anerkennung gefunden. Zu seinen Kundinnen zählen Prominente wie Gigi Hadid, Mindy Kaling, Heidi Klum, Jennifer Lopez, Queen Latifah und Zendaya; zu seinen Kunden Conan Gray, Karan Johar, Law Roach und Mark Zuckerberg.
Rahul Mishra setzt sich für Slow Fashion und die Idee des „achtsamen Luxus“ mit traditionellem indischem Kunsthandwerk ein und verkörpert dabei die Philosophie der drei „E“s – Environment, Employment und Empowerment. „Der Markenzweck definiert den Prozess. Der extrem verlangsamte Prozess des Handwebens und -stickens ermöglicht es, nachhaltige Lebensgrundlagen für mehr als 1000 Kunsthandwerker:innen zu schaffen“, erklärt das Luxushaus.
Über die Kollektion „We, The People“ heißt es: „Das Kunstwerk möchte die treibende Kraft der Couture, die Kunsthandwerker:innen, in den Vordergrund stellen. Es sieht sie als mehr als nur Schöpfer:innen – als Schnittstelle zwischen künstlerischem Ausdruck, jahrhundertealtem Handwerk und technischer Meisterleistung, die ihnen die fast göttliche Fähigkeit verleiht, Fantasie in Realität umzusetzen.“
Der Traum ist also groß: „Mein größtes Ziel ist es, eines Tages mehr als einer Million Menschen weltweit Arbeit zu geben“, erklärte Mishra in einem früheren Interview mit AFP. Er bietet eine Slow-Fashion-Alternative zu den Fast- und Ultra-Fast-Fashion-Giganten der Welt, insbesondere mit seinem Ready-to-wear-Label AFEW.
Es ist ein seltener Genuss, eine Auswahl an Couture-Kreationen, deren Herstellung Tausende von Arbeitsstunden in Anspruch nehmen kann, aus der Nähe zu sehen. FashionUnited hatte kürzlich die Gelegenheit, Stücke aus vier Couture-Kollektionen – „A Pale Blue Dot“ (Frühjahr 2025), „Superheroes“ (Frühjahr 2024), „We, The People“ (Herbst 2023) und „Enchanted Garden“ (Frühjahr 2022) – bei einer Ausstellung im Jio World Plaza in Mumbai zu sehen. Obwohl es immer noch unmöglich ist, genau zu verstehen, wie viel Arbeit und Detailwissen in jedes Meisterwerk fließen, erhält man einen Einblick in die Handwerkskunst, Hingabe, das Können und die Inspiration hinter den Kreationen, die darauf abzielen, Luxus aus der Perspektive der Teilhabe und nicht nur des Konsums zu betrachten.
Der Charme von Rahul Mishras Kreationen liegt darin, dass sie immer wieder aufs Neue überraschen – während man sich in die detailreiche Arbeit von Bienen und Motten vertieft, überrascht der Designer im nächsten Moment vielleicht mit einer kompletten Landschaft.
„Ich träume viel, verliere mich oft in einer neuen Welt, in einer Art Fantasie“, erklärte Mishra vor einigen Jahren im Gespräch mit AFP. „Ich komme zurück und teile meine Träume mit meinem Team, ich spreche mit ihnen, unterhalte mich mit ihnen ... und dann wird dieser Traum zu einem gemeinsamen Traum, und alle beginnen, an diese Idee zu glauben.“
Inspiration aus Landschaften, Flora ...
Die Natur war eine von Mishras frühesten Inspirationsquellen. Schon im Alter von zehn Jahren skizzierte er Blumen und Szenen seiner ländlichen Heimatstadt Malhausi in der Nähe von Kanpur. Ein Beispiel dafür ist sein „Himachal“-Lehenga-Set aus der „Enchanted Garden“-Kollektion, der Beschreibung zufolge eine „poetische Manifestation eines blühenden Himalaya-Frühlings“. Es wurde von einem Kunstwerk inspiriert, das die Landschaft des Bundesstaates Himachal Pradesh zeigt. „Das Kleidungsstück fängt die traumhafte Essenz wilder Wiesen ein, die unter einem endlosen blauen Himmel schwanken.“
Das „Iris”-Kleid der „We, The People”-Kollektion wurde von Selena Gomez zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung auf dem roten Teppich getragen. Es besteht aus 18 handgestickten Blütenblättern.
Die modellierten, gerüschten Schultern verleihen einen Hauch von Erhabenheit und erinnern an Flügel, während detaillierte Verzierungen an Konstellationen erinnern.
....und Fauna
Doch nicht nur die indische Flora diente Mishra als Inspiration, auch die Fauna. Mit „Moth Light“ fängt Mishra die Schönheit fliegender Motten ein. „Inspiriert vom empfindlichen Gleichgewicht der Natur und der wichtigen Rolle der Insekten in unserem Ökosystem, ist dieses Kunstwerk eine Hommage an ihren stillen, aber unverzichtbaren Beitrag“, so der Designer. „Ihre anmutigen Bewegungen, die mit akribischer Handwerkskunst dargestellt werden, spiegeln die Harmonie der Natur wider, in der jedes Lebewesen, geformt durch Millionen Jahre Evolution, eine unersetzliche, individuelle Rolle spielt.“
Die Stickerei zeigt einen Mottenschwarm, der ein leuchtendes Mieder umkreist. Das Kleid wurde von der indischen Schauspielerin Ananya Pandey auf dem Laufsteg als Teil der Couture-Kollektion „Superheroes Spring 2024“ getragen.
Das Korsettkleid „Bees Waggle“ aus der „Superheroes“-Kollektion entstand aus dem Gedanken, dass jedes Lebewesen, das in der Natur nach Millionen von Jahren der Evolution entsteht, für sein Gleichgewicht unerlässlich ist. „Diese Kollektion reflektiert Fakten wie die Tatsache, dass das Insektenreich die Nahrungskette antreibt, indem es 90 Prozent des gesamten Bestäubungsprozesses auf dem Planeten unterstützt“, heißt es im Begleittext.
Deshalb stehen bei diesem Kleid die Superhelden – die Bienen – im Mittelpunkt. „Das präzise bestickte Korsettkleid ist eine Hommage an die stille, essentielle Arbeit der Bestäuber und fängt die Harmonie zwischen Bewegung, Struktur und Leben ein“, heißt es weiter
Auch Reptilien wie Eidechsen sind für Mishra Superhelden und haben ihren festen Platz in der Natur. Dieses goldene Kleid mit Gitterstruktur und getarnten Eidechsen soll an die enge Beziehung zwischen Mensch und Tierwelt erinnern.
Der Mangrovenwald Sundarbans im Gangesdelta ist für seine Tiger bekannt, die das Gebiet schon lange vor den ersten Menschen bewohnten – vor etwa 12.000 bis 16.500 Jahren. Mishra zollt den königlichen Geschöpfen mit seinem Kleid „Tigress in Sundarbans“ Tribut, das Teil der „We, The People“ Herbstkollektion von 2023 ist.
„,We, The People‘ ist ein Wunderwerk, das sich die Frage stellt, ob sich Sticker:innen wirklich vorstellen könnten, wie sich der Adda (Stickrahmen, Anm. d. Red.) in einen Lotusteich verwandelt, und ob es einen Moment gibt, in dem sie sich fühlen, als wären sie in den Sundarbans, inmitten des Urwalds, und würden einen majestätischen Tiger streicheln“, heißt es in der Beschreibung.
„Die Karigars (Kunsthandwerker:innen, Anm. d. Red.) vertiefen sich in ihre Stickereien und versetzen sich in einen meditativen Zustand, in dem sich Zeit und Raum auflösen. Beim Sticken weben ihre Hände eine Parallelwelt und erschaffen eine Welt im Stoff, in der der wilde Tiger der Sundarbans Teil ihres inneren Heiligtums wird. Ihr konzentrierter Rhythmus formt einen Lebensraum der Fantasie, unberührt von der Außenwelt. Dabei wird die Stickerei nicht nur zur Kunst, sondern zum Portal zu einem ruhigen, meditativen Dasein.“
Mishra beschäftigt sich für seine Frühjahrskollektion 2025 „A Pale Blue Dot“ auch mit kulturellen Aspekten, zum Beispiel mit diesem „Ravens“-Kleid. „In der hinduistischen Tradition werden Raben als Boten scheidender Seelen verehrt und verkörpern eine heilige Verbindung zu unseren Vorfahren. Sie symbolisieren Intelligenz, scharfe Beobachtungsgabe und die tiefe Verbindung zwischen der physischen und spirituellen Welt“, erläutert er.
„Das Kunstwerk spiegelt ihre Rolle als Wächter des Übergangs wider, die das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod steuern. Im Flug schwebend, scheinen die Raben das Unsichtbare zu umkreisen und rufen ein Gefühl von Bewegung, Mysterium und Transzendenz hervor – eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem ewigen Kreislauf der Existenz“, so der Begleittext.
Inspiration aus Stadtlandschaften
Urbanisierung ist ein Thema, das auch in der Kollektion „A Pale Blue Dot“ aufgegriffen wird, beispielsweise im Kleid „Urban Tree“. Als Metapher für Wachstum, Konsum und Nachhaltigkeit zeigt es eine Metropole mit steil aufragenden Hochhäusern, die aus den Wurzeln eines tiefen, verschlungenen Banyanbaums emporwachsen.
Es ist auch ein Kommentar zu unserem steigenden Konsum: „Städte mit ihren starren und schimmernden Fassaden benötigen enorme Mengen an Energie, Wasser und Materialien, um sich zu erhalten, bieten der Natur jedoch wenig dafür“, heißt es.
„Das Korsettkleid fängt die himmlische Weite ein, während der mehrlagige Trenchcoat die strukturierte Schönheit einer erleuchteten Metropole heraufbeschwört. Dieses Ensemble spiegelt das nahtlose Zusammenspiel von Kosmischem und Urbanem, von Himmlischem und Greifbarem wider – eine künstlerische Ode an das Universum in uns und jenseits von uns“, erklärt der Begleittext.
Wenn Ihnen das Outfit „Cityscape 3D“ (unten links) aus der Kollektion „A Pale Blue Dot“ bekannt vorkommt, könnte das daran liegen, dass die Rapperin Queen Latifah das bodenlange Cape bei den 67. Grammy Awards trug. 1200 Arbeitsstunden und 66 Pyramidenstrukturen in vier verschiedenen Größen waren nötig, um diese futuristische Silhouette zu erschaffen.
„Dieser skulpturale Look fängt die Erhabenheit und Fragilität moderner Städte ein und verkörpert sowohl menschlichen Einfallsreichtum als auch unvermeidlichen Verfall. Schimmernde schwarze Stickereien erinnern an dystopische Landschaften und symbolisieren verlassene, von der Natur zurückeroberte Metropolen“, erklärt das Label.
„Er erinnert an unsere vergängliche Existenz und unseren Einfluss auf den Planeten. Der Kontrast zwischen starrer Struktur und Fluidität spiegelt die Spannung zwischen der urbanen Expansion und der stillen Widerstandsfähigkeit der Natur wider“, heißt es weiter.
Diese Kreation mit dem Titel „Cityscape in Sands of Time“ zeigt eine Sanduhr, deren obere Hälfte von einem hoch aufragenden Hochhaus gebildet wird und dem Modehaus zufolge menschlichen Ehrgeiz und Fortschritt symbolisieren soll. „Während der Sand hindurchrieselt, offenbart die untere Hälfte verstreute Partikel, die den unvermeidlichen Lauf der Zeit darstellen. Die einstmals großartigen Bauwerke zerfallen zu Staub; eine eindringliche Erinnerung daran, dass alles, egal wie monumental, zur Erde zurückkehren muss, aus der es entstand. Das Werk spiegelt die Vergänglichkeit von Macht und Leistung wider sowie die eindringliche Kontemplation über den zyklischen Weg von Entstehung und Verfall.“
Über Rahul Mishra
Mishras Geschichte mag in der Modewelt ungewöhnlich sein – er hatte weder Mentor:innen noch Förderung für sein Designtalent –, doch in Indien, wo Anwält:in, Ärzt:in und Ingenieur:in immer noch als die einzig akzeptablen, „sicheren“ Karrieren gelten (auch wenn sich dies langsam ändert), ist dieser Anfang durchaus üblich. Sein Vater, selbst Arzt, drängte Mishra zu einem Physikstudium. Doch er konnte seine Couture-Träume nicht aufgeben und schrieb sich am National Institute of Design in Ahmedabad ein, bevor er sein Studium in Mailand als erster nicht-europäischer Designer mit einem Stipendium am Istituto Marangoni intensivierte.
Rahul Mishras gleichnamiges Label ist derzeit in Indien mit sechs Einzelhandelsgeschäften und einem florierenden nationalen und internationalen Vertriebsnetz vertreten. Die erste europäische Boutique eröffnete 2023 in London dank eines Joint Ventures mit dem indischen Multikonzern Reliance, einem wichtigen Distributor von Luxusmarken.