Berliner Modewoche: Digitale Ritter, Rollenspiele und Besuch in der Kindheit
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Die Berlin Fashion Week bekam in der SS26-Saison zusätzlichen Aufwind durch Labels wie Ottolinger und David Koma. Mit 37 Schauen mag das Programm noch kürzer als in anderen Modemetropolen sein, aber die Besonderheit der deutschen Hauptstadt ist, dass die Designer:innen nah am Zeitgeist arbeiten und es schaffen, wichtige und aktuelle Themen in ihren Kollektionen anzusprechen.
Auch wenn einige Designer:innen den Laufsteg für klare, wörtliche Statements nutzten, dominierten doch Introspektion, das Hinterfragen von Geschlechterrollen und Inspirationen aus vergangenen Zeiten die SS26-Kollektionen.
Introvertierte Romantik
Die Berliner Marke Richert Beil griff in früheren Saisons oft unbequeme, aktuelle Themen radikal auf. Für Frühjahr/Sommer 2026 fallen sowohl die Kollektion als auch das Thema weicher aus. Ihren Umzug in ein neues Studio nehmen die Gründer:innen als Anlass den Blick unter dem Titel und Konzept “Milieuschutz” auf ihre nächste Umgebung zu richten. Sie nehmen den Begriff als Metapher, um über den Schutz von “Werten, Methoden und Ideen” nachzudenken, die in der Geschwindigkeit und an der Oberfläche des heutigen Modesystems untergehen.
Die Kollektion von Richert Beil versucht, die Poesie zu erhalten, indem sie sowohl romantisch als auch präzise bleibt. Tailoring kehrt als zentrales Element mit traditionellen Schnitten, Uniformen sowie Trachtenelementen zurück – und wird oft von floralen Motiven flankiert. Seidenhosen und Blusen mit handgefertigter Spitze kreieren ein Gefühl von Intimität. Angesichts fragiler Zeiten wirkt es bedeutungsvoll, sich auf persönliche Werte zu besinnen.
Im letzten Outfit auf dem Laufsteg kulminiert das Konzept. Die Regengeräusche während der Show lassen nach, ein älteres Model betritt den feuchten Raum in einem schwarzen, bodenlangen Latexmantelkleid, dem schwarze Blumen am Ärmel und an der Seite die Schwere nehmen. In diesen Zeiten braucht es Schutz, aber zugleich bedarf es auch der Poesie, um Zuversicht zu wahren.
Auch bei anderen Labels wirkt die Suche nach Romantik introspektiv. Ein Chor von Glöckchen an einem schwarzen Schnür-Top läuten den Laufsteg des Labels Milk of Lime ein, es folgen weitere detailverliebte Looks mit poetischen Nuancen, und irgendwann ein T-Shirt mit dem Satz: “I demand Poetry”. In unruhigen Zeiten kann das Verlangen nach Poesie schon ein politisches Statement sein.
In der SS26-Kollektion des Labels Marke ist Romantik ebenfalls ein wichtiges Thema, denn sie erkundet die verbotenen Liebesgeschichten von queeren Jugendlichen. Aber sie bekommt bei Designer Mario eine leichtere und hellere Note. Die Silhouetten werden weicher, Blumen wandern auf die Jackenärmel, und sind nicht mehr an der heimlichen Liebespost versteckt – kleine Papierröllchen, die das Styling der ersten Looks vollendete.
Rollenspiel
Das Spiel mit den Codes der Menswear fand sich nicht nur bei Marke wieder. David Koma zeigte die Menswear-Kollektion seiner Marke zum ersten Mal in Berlin und spielte ebenfalls mit den Identitäten und den Bildern moderner Männlichkeit – und das gleich dreifach.
Der Titel der Kollektion “I love David” bezieht sich nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf Kultur-Ikone und Fußballer David Beckham und die klassische Skulptur David des italienischen Künstlers Michelangelo – sowie ihre Stile. Tief sitzende, leicht gewaschene Jeans der Jahrtausendwende, David-Souvenir-Schürzen und ein paillettenbesetzter Nadelstreifenanzug laden zu einer Konversation über das männliche Image zwischen Idol und Individuum ein.
Das Berliner Label GmbH deklinierte in einer subtilen Form ebenfalls die Codes der Menswear durch – von Capehemden, über bauchfreie T-Shirts zu zarten, rosa Baumwollshorts. Mit Rollen spielte Designerin Marie Lüder in ihrer Kollektion, aber verdrehte die klassischen Figuren aus Märchen und Sagen im Kontext einer modernen Metropole. Die Heldin ist vielleicht die alleinerziehende Mutter, und die Prinzessin ist eine Satire über die Maskulinität, heißt es in den Erklärungen zur Kollektion von Lueder.
Auch die Identitäten von Frauen wurden hinterfragt. Clara Miramon widmete ihre Kollektion den oft unsichtbaren Pflegekräften und verband Uniformen von Krankenschwestern aus den 1960ern und orthopädisches Design mit gerafften Stoffen und geschnürten Korsetts. Laura Gerte stürzte sich in die Komplexität der weiblichen Erfahrungen mit hautengen Mesh, zerschlissenem Jersey und drapierten T-Shirts.
Besuch in der Kindheit
Nach einer Stille zum Gedenken an die Toten in Gaza und angesichts des Genozids zeigte GmbH eine zutiefst persönliche Kollektion, für die die Designer Benjamin Huseby und Serhat Isik tief in ihre Kindheit eingetaucht sind. „Wir haben versucht, Spiel und Freude zu verkörpern, während wir mit der Verzweiflung konfrontiert waren”, schreibt das Duo in ihrem Pamphlet zur Show “Imitation of Life”.
Der Titel der Show erklärt sich aus dem Gefühl, dass Huseby und Isik angesichts der Grausamkeit in der Welt sich wie Schlafwandler oder Geister fühlen. Sie fühlen sich in diesen Zeiten des “moralischen Kollapses” nicht mehr mit der Realität verbunden, auch die Entwürfe seien für alle Aspekte des Lebens gemacht, real oder nicht.
Aus der Kindheit haben sie Elemente der Kostüme für das Beschneidungsfest für die Kollektion entnommen – wie Schärpen oder den türkischen Ausdruck Masallah. Der Spruch wird verwendet, um Dankbarkeit für etwas Schönes oder ein positives Ereignis auszudrücken. Er wird auch gebraucht, um Unheil abzuwenden – GmbH setzte den Spruch an den Saum von bauchfreien T-Shirts.
Manche Erwachsene klammern sich an Kindheitserinnerungen als eine Form der Flucht – diese Beobachtung war Teil der Inspiration des Labels Sia Arnika für die SS26-Kollektion. Heraus kamen Kleidungsstücke, die an Stellen, an denen sie es nicht sein sollten, zu eng und zu freizügig sind, als ob sie nach Erinnerungen und nicht Logik gefertigt worden sind. Die Marke SFO1G richtet ihren Blick für Frühjahr/Sommer 2026 ebenfalls nach innen und will die kollektive Nostalgie nach den intensiven Teenager-Jahren einfangen.
Digitale Ritter
Das Label Lueder zeigte seine Kollektion in einer digitalen mittelalterlichen Sagenwelt, wo Ritter gegen ein metallisches Drachenmonster kämpfen. Ein Bardengesang leitet die Show ein, Wichtelmützen und Streetwear-Rüstungen gehören ebenso in diese Welt voller unerwarteter Wendungen wie schützende Kapuzen oder talismanische Gürtelschnallen. Der Laufsteg verwebt so Geschichte, Imagination und Performance.
Mittelalterliches Rittertum und digitale Welt sind auch die Inspirationsquellen des Label Iden, das seine Entwürfe als Installation während der Berliner Modewoche zeigte.