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Lieferketten-Experte Peter Rinnebach: „Gerade wenn es um Top-Seller geht, kann es schon knapp werden“

Von Weixin Zha

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Business |Interview

Bild: Kua Chee Siong / ST_Singapore Press Holdings via AFP

Die weltweiten Lieferketten befinden sich in Aufruhr. Das trifft auch Modehersteller. Nike hat die Analystenerwartungen bei seinen jüngsten Geschäftsergebnissen wegen Lieferengpässen verfehlt, Puma und Adidas sprechen von ähnlichen Problemen. Wo liegen die aktuellen Probleme und was können Modeunternehmen kurzfristig und langfristig tun, um ihre Supply Chain zu optimieren?

Das erklärt Peter Rinnebach, Managing Director Retail Product & Sourcing Strategy bei der Unternehmensberatung Accenture, im Interview.

Wo liegt eigentlich das Problem in den Lieferketten der Modeindustrie?

Im Grunde ist es eine Geschichte, die Anfang letzten Jahres begonnen hat. Zu Beginn der Covid-Krise hatten wir die ganzen Ausfälle in China, danach in den anderen Produktionsmärkten. Jeder hatte Angst, überhaupt noch die Bestände zu bekommen. Keiner hat daran gedacht, dass Corona überhaupt in den europäischen und amerikanischen Märkten ankommen wird. Nachdem alle sehr darum gekämpft haben, ihre Bestände und die Ware entsprechend der Budgets zu bekommen, hat sich der Spieß umgedreht. Auf einmal war die Nachfrage in den Absatzmärkten weg und die Marken haben versucht bestehende Bestellungen zu reduzieren und zu stornieren. Seitdem hat sich die Situation nicht mehr richtig stabilisiert.

Und wo stehen wir heute?

Es hat sich jetzt wieder gedreht. Jetzt geht es darum, wie bekomme ich überhaupt die Ware? Das hat dazu geführt, dass wir im Grunde bis jetzt an allen Teilen der Supply Chain im Fashion-Bereich mit Verzögerungen und Problemen kämpfen.

Peter Rinnebach leitet global den Bereich Retail Produktentwicklung und Sourcing bei Accenture Strategy. Bild: Accenture

Die globale Lieferkette ist äußerst komplex, aber können Sie trotzdem einen Überblick über die Engpässe geben?

Ein ganz zentraler Punkt dabei ist das Container-Shipping. Es gab Hafenschließungen wie im chinesischen Yantian, wodurch Verzögerungen in der gesamten Lieferkette entstehen. Die Schiffe stauen sich in den Häfen, die Verarbeitungskapazitäten reichen nicht, um die Verzögerungen aufzuholen. Gleichzeitig führt es dazu, dass sich jetzt vor den amerikanischen Häfen die Schiffe stauen, wo nicht genug Kapazität da ist.

Das führt allein aus dem Transport heraus zu Verzögerungen. Container sind auf den Schiffen gebunden, die warten, und in den Häfen, wo sie nicht rechtzeitig entladen werden. Das ist der Grund, warum die Containerkapazitäten nicht da sind, die man bräuchte. Deshalb sind auch die Containerpreise auf den Hauptrouten in die Vereinigten Staaten und nach Europa so explodiert.

Aber bei dem Stau auf den Transportwegen bleibt es nicht…

Solange ich nicht auf vertikale Beschaffungsmärkte schaue, sondern auf Beschaffungsmärkte, in denen das Material nicht lokal ist, haben die Shipping-Probleme auch Auswirkungen auf die Materialverfügbarkeit für die Produktion. Auf der Produktionsseite kommt die recht strikte Handhabung der Covid-Krise in China dazu, wo in Städten bei wenigen Fällen schon Lockdowns verhängt werden und damit die Produktion zeitweise ausfällt. In Zhejiang sind 160 Fabriken im September für mehrere Wochen ausgefallen.

So etwas hat auch direkt wieder Auswirkungen. Die Verzögerung in der Produktion übersetzt sich wieder in die Transportverzögerung. Im Grunde kommen da eine ganze Menge an interdependenten Unsicherheitsfaktoren entlang der gesamten Kette zusammen.

Gibt es noch andere Engpässe, wenn Sie die gesamte Lieferkette betrachten?

Es gibt Knappheit bei den Mitarbeitern in den Lagern der wichtigen Märkte, was durch das rasante Online-Wachstum während der Corona-Pandemie getrieben ist. Das gilt auch auf der „letzten Meile“, wo es Engpässe beim Transport aus dem Lager heraus zum Kunden gibt.

Großbritannien ist ein Spezialfall. Die Tankstellen, die nicht genug Benzin haben, und die Supermarktregale, die leer sind, sind eher im Brexit-Kontext zu sehen. Die Fahrer aus England kamen häufig aus Osteuropa, die jetzt nicht mehr zur Verfügung stehen.

    Peter Rinnebach arbeitet seit 20 Jahren mit dem Management vieler globaler Fashion Unternehmen – von vertikalen Händlern bis zu Luxusmarken – bei der Optimierung ihrer weltweiten Supply Chains zusammen. Accenture unterstützt etwa zwei Drittel aller großen Modeunternehmen im Rahmen von Projekten mit Fokus auf der Digitalisierung der Wertschöpfungskette.

Das heißt, innerhalb Kontinentaleuropas und Deutschlands müssen wir nicht um leere Regale bangen?

Wir haben im Moment keine Situation, in der die Ware nicht mehr zum Endkunden kommt. Die Situation vom Lager bis zur „letzten Meile“ ist abgedeckt, wobei es im Weihnachtsgeschäft knapp werden kann. Da bin ich gespannt, inwieweit Zusagen in den Webshops der großen Marken und Retailer eingehalten werden können. Man sah schon im vergangenen Jahr, dass es da deutliche Herausforderungen gab. Wir erwarten auch dieses Jahr, dass es schwierig wird, den Versprechen gemäß auszuliefern.

Die Herausforderungen bestehen also vor allem auf dem Weg ins Lager, in der vorgelagerten Lieferkette?

Viele der Unternehmen, mit denen wir arbeiten, müssen im Moment deutliche Verzögerungen bei den Lieferungen aus Asien in Kauf nehmen. Das ist ein massives Problem in einer Situation, wo Marken monatliche Drops einliefern, die nicht mehr wie früher 24 Wochen auf der Ladenfläche sind, sondern nur zwölf Wochen. Alles was ich nicht jetzt habe, verliert im Grunde die Möglichkeit sich auf der Fläche zu verkaufen.

Das Grundproblem im Moment ist, dass die ganzen Supply-Chain-Herausforderungen, diese Instabilitäten, auf ein Modell treffen, das unheimlich effizienz-optimiert worden ist und nur noch sehr wenig Spielraum für Abweichungen lässt. Die Sicherheitsbestände in den Lagern sind in den vergangenen Jahren heruntergefahren worden, die Entwicklungskalender sind deutlich gekürzt worden – von 52 Wochen vom Konzept bis in den Store auf 30 bis 40 Wochen oder sogar weniger.

Wo treten derzeit die meisten Verzögerungen auf?

Die wesentlichen Verzögerungen sind im Far-East-Sourcing. Wir haben gerade eine Analyse dazu gemacht, wie sich die Sourcing-Volumina im vergangenen Jahr, im “Corona-Jahr”, verändert haben. Es wurde lange Zeit darüber gesprochen, dass das Near-Sourcing wiederkommt. Aber es ist nie zurückgekommen, der Far-East-Anteil und der Anteil der europäischen Peripherie im Sourcing sind relativ konstant geblieben.

Wenn man jetzt auf die Import-Verteilungen – zum Beispiel in Europa – schaut, sieht man, dass die Far-East-Sourcing-Anteile deutlich stärker gelitten haben. Man sieht zum ersten Mal, dass die Importe aus Asien stärker zurückgehen als aus Tunesien, Marokko oder Osteuropa.

Können Sie diese Entwicklung auch beziffern?

Im vergangenen Jahr ist das Sourcing-Volumen aus China nach Europa um 34 Prozent zurückgegangen – aus Tunesien nur um 19 Prozent und Bulgarien 24 Prozent. Natürlich haben alle im Corona-Kontext daran gelitten, dass die Nachfrage nicht mehr da war, aber China hat es stärker getroffen. In einer kürzlichen Umfrage unter Chief Sourcing Officern haben 72 Prozent geantwortet, dass sie eine Zunahme des Near-Sourcing erwarten.

Im Fall von China ist es auch eine längere Entwicklung: Im vergangenen Jahr gab es noch 25 Prozent Sourcing-Anteil für Europa, vor zehn Jahren lag der Anteil bei 40 Prozent. Wir erwarten jetzt, dass sich diese Entwicklung fortsetzt, aber dass der Anteil, den China verliert, nicht ins günstige Far-East-Sourcing geht, sondern zum Teil auch wieder zurückwandern wird – um zeitkritischen Bedarf abdecken zu können. Bei Basics oder Never-Out-of-Stock-Artikeln ist es nicht so kritisch, da kann ich mit Sicherheitsbeständen arbeiten.

Das heißt Modeunternehmen arbeiten jetzt aktiv daran, das Sourcing wieder zurück zu bringen?

Das ist eine aktuelle Diskussion: Man versucht, diese Unsicherheitsfaktoren jetzt auszuschalten. Es gibt Beispiele, wo Brands angekündigt haben, selbst Schiffe zu chartern. Ich glaube, das sind eher die Ausnahmefälle. Die breitere Diskussion ist tatsächlich: Schaffe ich es Waren, die eher saisonal sind, näher heranzubringen, um einen Teil der Unsicherheit aus der Supply Chain herauszunehmen.

Wie raten Sie Unternehmen derzeit mit Lieferproblemen umzugehen?

Wenn die Ware schon im Hafen ist, und nicht verschifft werden kann oder nicht vom Schiff abgeladen werden kann, bleibt nur noch wenig, was man machen kann. Umso wichtiger ist das Thema Lieferketten-Transparenz – sich überhaupt bewusst zu sein, dass etwas droht, schief zu gehen.

Wenn ich merke, dass ich ein Risiko im Fernen Osten habe, kann ich proaktiv reagieren und zum Beispiel alternative Near-Sourcing-Supplier nutzen oder Waren vorziehen, um mein Angebot zu vervollständigen. Eine weitere Möglichkeit ist, mit mehr Sicherheitsbestand zu arbeiten.

Treffen Brands jetzt auch langfristige Vorkehrungen gegen Situationen, wie wir sie aktuell erleben?

Eines der Hauptthemen ist Supply-Chain-Transparenz, wo momentan unheimliche Investitionen im Kontext der Digitalisierung getätigt werden. Ein weiteres Thema ist wieder stärkere Value-Chain-Kontrolle. Das heißt nicht, dass alle wieder zurückgehen und PLV- oder Cut-Make-Trim-Modelle nutzen im Vergleich zur Fertigprodukt-Beschaffung, was ja die große Entwicklung der letzten Jahre war.

Als Marke bringt man sich sehr viel stärker wieder im Materialmanagement ein, arbeitet verstärkt mit Lieferanten zusammen, tauscht sehr früh Pläne aus, nutzt Frühindikatoren gemeinsam für Probleme. Da sehen wir schon, dass sehr viel vom transaktionalen Zusammenarbeiten weggeht, wo Saison für Saison der Zulieferer gewechselt wird, um ein paar Cent zu sparen. Es geht wieder viel stärker dahin, langfristige Partnerschaften einzugehen und gemeinsam Investments zu tätigen – ob in Sustainability oder Arbeitssicherheit.

Zu Beginn der Pandemie mussten Unternehmen mehr Seefracht einsetzen nachdem Flüge gestrichen wurden. Dann stiegen die Containerpreise. Setzen Bekleidungsfirmen jetzt wieder vermehrt auf Luft- statt Seefracht?

Einige Brands haben in der Vergangenheit sogar mehr Luftfracht gehabt als heute. Air Freight wird nicht als Lösung genutzt, um jetzt die Container-Krise zu lösen. Der internationale Luftverkehr ist auch nicht auf dem Niveau wie er vorher war. Auch bei Air Freight sind die Preise hochgegangen und die Kapazitäten begrenzt.

Es kommt noch ein weiteres Thema dazu, CO2-Reduktion und Nachhaltigkeit. Die meisten Marken haben sich schon seit einiger Zeit ambitionierte Ziele Richtung 2025 und darüber hinaus gesetzt. Luftfracht ist ein wesentlicher Treiber von CO2-Emissionen. Der Schwenk von Air Freight wurde also schon strategisch von vielen Marken angegangen. Die Rückkehr zu hohen Air-Freight-Budgets ist damit keine strategische Option.

Wird es einen Punkt geben, wo sich die höheren Transportkosten auch in den Artikeln widerspiegeln werden?

44 Prozent der Chief Sourcing Officer erwarten, dass sich die Eingangsmargen im Einkauf reduzieren werden. Wenn diese sich reduziert, stehe ich vor der Wahl, dass sich meine Gesamt-Ebitda-Marge reduziert oder ich gebe es als Preissteigerung an den Kunden weiter. Wir gehen schon davon aus, dass aus Kundensicht Preissteigerungen zu erwarten sind.

Wir werden das zum Teil auch durch weniger Preisabschriften sehen. Wenn man vor Corona mit Marken gesprochen hat, ging es häufig um 20 bis 25 Prozent Preisabschrift, die man gemacht hat, weil in großen Mengen wenig gezielt eingekauft wurde. Ich glaube, Rabattschlachten um den Kunden, wie es sie in dem Maße in der Vergangenheit gegeben hat, wird es so nicht mehr geben. Kunden werden mehr zum Vollpreis kaufen als zu reduzierten Preisen.

Sehen Sie auch, dass Modemarken ihre Großhandelspreise gegenüber Händlern erhöhen?

Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Das hängt von der Machtverteilung zwischen der Marke und den Händlern ab. Gegenüber den wirklich großen Händlern haben viele Marken – außer sehr großen Sportartiklern zum Beispiel – nicht wirklich viel Spielraum. Bei den Großen wird es eher die Marke übernehmen, bei den Mittleren und Kleineren versucht man es eher auch auszugleichen.

Wie lange werden die momentanen Verzögerungen in der Lieferkette noch anhalten?

Das ist unheimlich schwer abzuschätzen und wird auch davon abhängen, wie die politischen Entscheidungsträger in den jeweiligen Ländern weiterhin mit Corona umgehen werden. Auf der Produktionsseite ist es relativ schwer absehbar, aus der Transportsicht wird geschätzt, dass sich die Situation wahrscheinlich Mitte nächsten Jahres entspannen wird. Es gibt aber auch Prognosen, die sagen, dass es uns noch länger begleiten wird.

Zum Schluss noch eine Frage: Ist das Weihnachtsgeschäft denn sicher?

Das ist die Frage, die am Ende immer in den Schlagzeilen der Medien auftaucht (lacht.) Ich glaube nicht, dass es leere Regale im Fashionhandel in Europa geben wird, aber die Brands werden ganz schön darum kämpfen müssen, die Warenverfügbarkeit sicher zu stellen. Und sicher auch mit einigen Tricks arbeiten – sei es vorhandene Waren auf der Fläche zu strecken oder Waren, die man zurückgehalten hat, wieder auf der Fläche zu integrieren. Gerade wenn es um Top-Seller geht, kann es auch schon knapp werden.

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