Physisch und digital: die Zukunft der Pariser Modewoche
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Die Modebranche macht beim Thema Digitalisierung große Fortschritte und die Pariser Modewoche geht mit guten Beispiel voran. Unter dem Titel „Physisch und digital: Welche Zukunft hat die Mode?“ hat die Masterclass, die im Oktober im Rahmen des 36. Festivals in Hyères organisiert wurde, sich dieser Frage gestellt, die in einem neuen Dialog zwischen Modeschauen und Online- und Offline-Präsentationen aufkommen.
Vor einigen Monaten mussten sich die Öffentlichkeit und die Modebranche die Frage stellen, wie es für die Modewochen weitergeht. Ob sie ihr ursprüngliches Format zugunsten von digitalen Modenschauen abschaffen würden? Noch immer ist unklar, welche Gewichtung online und offline in Zukunft einnehmen werden. „Die Zukunft wird zeigen, wie das Gleichgewicht zwischen physischen und digitalen Medien aussehen wird“, so Guillaume Robic, stellvertretender Direktor für Entwicklung, Kommunikation und Veranstaltungen des FHCM, der als Gast am Runden Tisch teilnahm. Für René Célestin, Gründer und Präsident der Agentur OBO, „sollten wir nicht mehr zwischen physisch und digital unterscheiden, es sind zwei Dinge, die völlig miteinander verwoben sind.“ Als er der ersten physischen Version der Schauen in Mailand nach dem Lockdown beiwohnte, beschrieb er die Erfahrung als einen äußerst freudigen Moment voller Enthusiasmus und fügte hinzu: „Es erinnerte mich unglaublich kraftvoll an die Tatsache, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, dass wir alle dank unserer Gleichgesinnten, die uns umgeben, wachsen.“
In Paris findet die Fashion Week jetzt sowohl online als auch offline statt. Unmittelbar nach dem Beginn des Lockdowns richtete die Fédération de la Haute Couture et de la Mode (FHCM) „eine Plattform ein, die alle von den Häusern zur Verfügung gestellten Inhalte zusammenführt und ein globales Netzwerk zur Verbreitung dieser Inhalte bietet“, erklärt Guillaume Robic. „Wir haben schnell gemerkt, dass die künstlerischen Leitungen und Kreativen das digitale Thema aufgegriffen haben und zu Filmschaffenden geworden sind. Das Ergebnis war eine Art Mode-Kurzfilmfestival im Juli 2020. Ich denke da vor allem an John Galliano, der für die letzte Woche der Haute Couture einen unglaublich poetischen Film gedreht hat, eine völlig symbolische, zeitgenössische und keltisch inspieierte Erzählung, die etwa 20 bis 25 Minuten dauerte. Wir haben die Entstehung einer neuen Art der Kreativität erlebt.“
Doch für junge Marken bedeutet diese hohe Nachfrage nach Inhalten - Lookbook, Editorial, Video, Laufsteg-Show - „eine Menge Arbeit“, so Gastdesigner Kevin Germanier. „Als neuer Designer muss man sich auch in finanzieller Hinsicht fragen, wo man sein Geld hinsteckt“. Er erklärt seine Herangehensweise: „Ich begann mit der Idee, dass jede Sache, um die wir gebeten wurden, ein separates Medium ist, und dass wir jedes Mal auf eine neue Art und Weise über die Kollektion sprechen müssten: Was das Lookbook zeigt, ist nicht das, was das Video zeigen wird, und es ist auch nicht das, was die Show zeigen wird. Letztendlich ergänzen sich alle gegenseitig.“ Kurzum, Kevin Germanier achtet auf abwechslungsreiche Inhalte, damit es dem Publikum nicht langweilig wird.
Das Online- und Offline-Erlebnis einer Modenschau
Um das Thema „physisch und digital“ im Zusammenhang mit einer Modewoche zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir eine Modenschau online sehen und wenn wir dieselbe Show physisch besuchen. „Es handelt sich um eine vielschichtige Angelegenheit“, erklärte Charlotte Rolland, Doktorin der Neurowissenschaften und Mitbegründerin von New Brain, die über ein vorab aufgezeichnetes Video am runden Tisch sprach. „Eine Live-Modenschau ist eine multisensorische und vielschichtige Wahrnehmung. Neben dem Kleidungsstück nehmen wir auch seine Textur, seine Materialien, viele Geräusche und Gerüche wahr. Es ist eine Explosion der Sinne, anders als im digitalen Bereich, wo uns eine Barriere diese multisensorische Erfahrung vorenthält. Diese Wahrnehmung wird dann von unserem Gehirn interpretiert, und in eine Erfahrung umgewandelt. Hier gibt es einen großen Unterschied zwischen physisch und digital, weil wir uns persönlich auf das Ereignis vorbereiten, die Tickets kaufen, daran teilnehmen, es uns vorstellen, uns darauf freuen, es ist eine echte Geschichte, die entsteht. Wir erleben sie mit vielen Interaktionen und in einem sehr starken emotionalen Kontext. Es ist klar, dass die Erinnerung und Verankerung viel stärker sein wird als in einer digitalen Umgebung, in der man sich hinter seinem Bildschirm befindet.“
Angesichts solcher Einschätzungen könnte man meinen, dass die Schlacht von vornherein verloren ist. Aber laut Charlotte Rolland können beide Erfahrungen von Interesse sein, wenn man sich auf bestimmte Hilfsmittel verlässt. Während es klar ist, dass Modehäuser Aufmerksamkeit erregen wollen, ist es weniger klar, ob man sie auch erhält. Sie erklärt: „Unsere Gehirne haben nur begrenzte Ressourcen, so dass es mit der Zeit immer schwieriger wird, jemanden vor einem Bildschirm zu erreichen. Bei einer digitalen Modenschau ist das Risiko viel höher, dass die Zuschauer ihre E-Mails checken, oder gleichzeitig Videos auf Tiktok ansehen.“
Um die Aufmerksamkeit des Publikums aufrechtzuerhalten, erklärt die Expertin: „Man muss mit den Emotionen spielen. Das Wecken von Emotionen spricht die Menschen emotional an und vermittelt ihnen ein echtes Erlebnis. Nicht als passives Publikum, sondern als jemand, der experimentieren wird, sei es hinter dem Bildschirm oder vor Ort. Für die Modeschaffenden ist es dasselbe: Sie wollen Emotionen wecken, um Begehrlichkeit und Kaufbereitschaft zu erzeugen, denn schließlich kaufen wir ein Kleidungsstück nicht nur aus Notwendigkeit, sondern vor allem, weil es uns eine Geschichte erzählt und eine Emotion hervorruft. Wenn wir etwas in physischer Form schaffen, können wir Materialien und Texturen verwenden. Im digitalen Bereich müssen wir andere Hebel ansetzen, die mehr mit der Geschichte, dem Kontext und dem Storytelling zu tun haben, mit dem, was das Objekt umgibt und was manchmal wichtiger ist als das Objekt selbst.“
Eine Studie über die emotionale Wirkung der Pariser Modewoche
Die Herausforderung scheint von den Häusern und Marken im FHCM-Kalender verstanden worden zu sein. Laut den von Launchmetrics, einem Unternehmen für Modedatenanalyse und Partner des Verbandes, veröffentlichten Zahlen brach die Saison Frühjahr/Sommer 22 der Pariser Damenmodewoche alle Rekorde. Michael Jaïs, Geschäftsführer von Launchmetrics, erklärte in einer Videoübertragung im Rahmen der Masterclass: „Paris hält seinen Vorsprung nicht nur, sondern baut ihn aus.“ Er fügte hinzu: „Wir haben alle negativen Auswirkungen von Covid beseitigt.“ Laut Michael ist dies auf die Kombination des emotionalen Genusses der physischen Schauen mit der Wirkung des Digitalen zurückzuführen.
Und die Zahlen sind beachtlich. Nach Angaben der Datenplattform beläuft sich der Wert der Medienwirkung der letzten Pariser Modewoche auf 297 Millionen US-Dollar (254 Millionen Euro), was einem Anstieg von 125 Prozent gegenüber der H/W21-Saison und 128 Prozent gegenüber der F/S21-Saison im vergangenen Jahr entspricht. Im Vergleich dazu betrug der Wert der Medienwirkung der Mailänder Modewoche 182 Mio. US-Dollar (156 Mio. Euro), der von London 49 Mio. US-Dollar (42 Mio. Euro) und der von New York 244 Mio. US-Dollar (209 Mio. Euro).
Aber wie übertragen sich diese Summen über die Medienwirkung hinaus in Emotionen? Die Antwort soll bald erfolgen. Die Plattform, die insbesondere von der FHCM, dem CNRS und Tiktok unterstützt wird, wird im November eine Studie über die emotionale Wirkung von digitalen Modeschauen veröffentlichen. „Die Ergebnisse sind außergewöhnlich", kündigt Michael Jaïs bereits an.
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Dieser Artikel wurde zuvor auf FashionUnited.fr veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ