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AFW: Ein poetischer Vergnügungspark – neun junge Kreative präsentieren ihre Visionen während 'Visions Of'

Von Nora Veerman

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Mode

Vor nicht allzu langer Zeit war das große V&D-Gebäude am Rokin in Amsterdam der Ort, an dem man fröhlich Socken, Taschen, Kinderkleidung und Küchenutensilien einkaufen konnte. Anders sieht es am zweiten Tag der Amsterdam Fashion Week (AFW) 2020 aus: Das Gebäude ist vollständig entkernt; nur zwei monumentale, feststehende Rolltreppen zeugen noch von dem, was einmal war: ein Warenhaus. Auf der linken Seite befindet sich eine eingestürzte Hüpfburg, dahinter das Gerüst eines Karussells. Disco-Musik prallt gegen die kahlen Wände. In diesem bizarren Vergnügungspark stellen die Teilnehmer von "Visions Of", dem Talentprogramm von Duran Lantink, ihre Arbeiten vor.

In Zusammenarbeit mit dem Batavia Stad Fashion Outlet wählte Lantink neun junge Designerinnen und Designer aus, die speziell für die AFW neue Arbeiten mit den Schwerpunkten Integration und Nachhaltigkeit entwickelten. Ihre Kollektionen werden auf der Grundlage vorhandener Kleidungsstücke hergestellt, von denen einige aus dem Überbestand des Fashion Outlet stammen. Die Präsentationen reichen von poetischen Tanzaufführungen in Spiegelpalästen bis hin zu humorvollen Tableaux-vivants (frz. ‘lebendes Bild’). Das Publikum wird in kleinen Gruppen an ihnen vorbeigeführt.

„Erwarten Sie einen echten Unterhaltungspark voller Kreativität und Innovation”, sagte Lantink in einem Interview vor der Veranstaltung. Das Resultat sieht nach einem Vergnügungspark aus, der unterhaltend wirkt, allerdings verbirgt sich hinter vielen der Arbeiten eine kritische Vision der Modeindustrie.

Installation ’Unconventional Overload’, Anouk van Kampen Wieling und Nina Dekker. Foto: Team Peter Stigter

Ein stillgelegte Kirmes

Das Karussell im Erdgeschoss bildet die Kulisse für das Konzept von Anouk van Kampen Wieling und Nina Dekker. Das Fahrgeschäft selbst ist fast vollständig demontiert: Die farbenfrohe Verkleidung wurden entfernt, und Pferde, Autos und andere Figuren sind in alte Kleider gehüllt im Raum verstreut. Nur der Metallrahmen des Karussells ist noch da, mit einem Motor drin und einer Steckdose daneben. Drei Kleidungsstücke, Hosen und zwei Jacken, die aus Fallschirmstoff, alten Schwimmwesten und anderen gebrauchten Materialien bestehen, werden mit dünnen Kabeln am Karussell aufgehangen.

Dekker und Van Kampen Wieling interessieren sich nicht für Trends oder Verzierungen, sondern für die Schönheit der Funktionalität. Denken Sie zum Beispiel an die Formen, Farben und Materialien von praktischen Kleidungsstücken wie Sicherheitswesten, Fischerjacken und Militäruniformen. Dadurch entsteht ein spannender Kontrast in ihren Arbeiten, in denen technische Materialien und Details eine dekorative Funktion erhalten. Auf diese Weise erforschen die beiden die Möglichkeiten der alltäglichen Dinge um uns herum.

Installation von Tijme Veldt und Vita Stasiukynaite. Foto: Team Peter Stigter

Auch Tijme Veldt und Vita Stasiukynaite nutzen in ihrer Arbeit Jahrmarktsattraktionen auf eine andere Art und Weise. In diesem Fall Greifautomaten, die mit gebrauchten Kleidungsstücken gefüllt sind oder als Auslage für eigene Entwürfe dienen: dekonstruierte Jacken, Taschen und Hemden. Ausgangspunkt für das Projekt von Veldt und Stasiukynaite war das Wort "Dekadenz", eine Form von Luxus und Exzess, die gleichzeitig ein Zeichen des Verfalls ist. Die Greifmaschinen scheinen sich auf den Verfall der heutigen Modeindustrie zu beziehen, in der Kleidung manchmal buchstäblich zum Mitnehmen da ist (und die meisten Menschen am Ende nichts gewinnen). Ihre Entwürfe - hergestellt aus den Resten dieser Industrie - zeigen gleichzeitig die neuen Ideen, die daraus entstehen können.

Spieglein, Spieglein…

Im ersten Stock zeigt Lola van Prag ihre Kollektion während einer Vorstellung in einem Dekor aus ‘Lachspiegels’ (ndrl. Begriff für ‘Spiegel der Proportionen verändert’). Dabei gibt es zunächst nicht viel zu lachen: Die Performance besteht aus einer einfühlsamen Choreographie mit intimen Duetten, die von acht männlichen Tänzern aufgeführt wird. Diese tragen die Kollektion von Van Praag, bestehend aus schmalen Jacken, Oberteilen und Hosen, mit gehäkelten, gestrickten, gewebten oder applizierten Blumen. Alles ist aus vorhandenen Materialien hergestellt, in weiß und ecru. Es sind die vielen Details und Perspektiven, die einen dazu bringen, es endlos zu betrachten.

Performance ‘Beyond the Lipstick’, Team Lola van Praag. Foto: Team Peter Stigter

Die Kollektion mit dem Titel 'Beyond the Lipstick' basiert auf dem Buch 'Mauvais Genre' von Sebastien Lifshitz. Das Buch enthält Schwarzweiß-Fotografien aus dem 19. und 20. Jahrhundert von so genannten ‘Crossdressers’ (Männer in Frauenkleidern oder umgekehrt), die stets mit hellem Lippenstift abgebildet sind. In der Vergangenheit waren diese Männer und Frauen oft selbst Attraktionen, bei Shows oder in Clubs, aber Van Praag ignoriert die Idee des Crossdressing als theatralischen Akt. Stattdessen konzentriert sie sich auf die Kleidung als Werkzeug für ein Spiel mit Identitäten. Der Spiegel spielt dabei eine wichtige Rolle: er fängt das Spiel für einen Moment für diejenigen ein, die es betrachten.

Der Digitalkünstler Joep Truijen arbeitet auch mit Spiegeln. Seine virtuellen menschlichen Figuren, die auf drei großen Bildschirmen im Untergeschoss des V&D-Gebäudes gezeigt werden, imitieren die Bewegungen des Besuchers. Truijen hat sie in digitale Fantasie-Outfits gekleidet, die er aus Fotografien vorhandener Kleidungsstücke zusammengestellt hat. Truijen wollte „eine Installation machen, in der (...) wir erfahren können, wie es ist, Kleidung zu tragen, ohne etwas Greifbares zu produzieren". Die Figuren bewegen sich etwas holzig und sind deshalb lustig, aber gleichzeitig sind sie Teil eines realen Zukunftsbildes. Schließlich experimentieren bereits mehrere große Modemarken mit Technologien, die das Verhältnis zwischen Kleidung und Körper nachhaltig verändern werden.

Installation ‘Nothing New’, Joep Truijen. Foto: Team Peter Stigter

Eine Ode an die Blase und andere Geschichten

Drei weitere Präsentationen sind auf den ersten Blick eine Art Live-Entertainment. Bei der Performance von Vivian Zandhuis kommt ein mit Filzstift tätowierter Darsteller aus einer großen Hüpfburg, der mit einer Knopfdrehung einen Metal-Song beginnt und fünf Minuten lang ununterbrochen in ein Mikrofon grunzt. Die Darsteller von Michiel van Maaren sind alle vier wie Michiel van Maaren geschoren und gekleidet - rasierte Locken, Schnurrbart, Brille - und bespritzen sich gegenseitig und das Publikum mit Wasserpistolen in einem sterilen weißen Dekor aus Tyvek.

Performance ‘The Fastest Fashion’, Michiel van Maaren. Foto: Team Peter Stigter

Simon Keizers Aufführung hat den größten Anteil am experimentellen Theater. Seine Kollektion „basiert auf der menschlichen Blase und allem, was aus ihr herauskommt", heißt es in der Programmbroschüre. Zwei Modelle, eingehüllt in gelb-braune Kreationen aus recycelten Gegenständen und flockigen Gummistücken, in die das Wort "feucht" eingeritzt ist, jagen sich gegenseitig mit Wischmopps über die Bühne. Ein dritter, eingehüllt in etwas, das wie eine alte Bettdecke aussieht, hüpft in einer Ecke auf und ab.

Performance ‘Bladder Gladder’, Simon Keizer. Foto: Team Peter Stigter

Alle drei sind auf ihre Weise eine poetische Reaktion auf den Zustand der Mode. Gegenüber Zandhuis' Metal-Sänger befinden sich drei stumme Modelle in Silhouetten, die die Designerin von Hand mit malerischen Dorf- und Meereslandschaften gestaltet hat. Der Kontrast zwischen so viel Lärm und Geschwindigkeit mit intimer Stille und Geduld ist typisch für das Dilemma, in dem sich die Modebranche befindet. Van Marens Darsteller tragen dünne, gefärbte Jacken und Hosen über bereits vorhandenen Kleidungsstücken, die aus einem Stoff hergestellt sind, der sich bei Nässe auflöst - ein Hinweis auf die Vergänglichkeit der schnellen Mode. Die Farbe bleibt auf den unteren Kleidungsstücken wie eine Spur, eine Erinnerung, die es zu bewahren gilt. Und Keizer? Seine Darbietung erinnert vor allem daran, dass Kleidung schockieren, erstaunen und die Grenzen des Schönen oder der Mode verschieben kann.

Performance ‘Blank Canvas’, Vivian Zandhuis. Foto: Team Peter Stigter

Dieser Beitrag wurde zuerst auf FashionUnited.nl veröffentlicht. Übersetzung und Bearbeitung: Ole Spötter

Titelbild: Installation ’Unconventional Overload’, Anouk van Kampen Wieling und Nina Dekker. Foto: Team Peter Stigter

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