Retraced über Traceability, nicht-textile Lieferketten und 15 Millionen Euro Finanzspritze
Wird geladen...
Erst vor fünf Jahren gegründet, zählt das Düsseldorfer Start-up Retraced bereits rund 150 Fashion- und Outdoor-Marken mit ihren 15.000 internationalen Lieferant:innen zu seiner Kundschaft und unterstützt diese bei der Digitalisierung ihrer Lieferkette. Darunter sind Schwergewichte wie Victoria’s Secret, Calzedonia, Tom Tailor und Marc O‘Polo oder der Nachhaltigkeitspionier Vaude. Digitalisierung ist für Retraced aber kein Selbstzweck: Mit seiner SaaS*-Plattform will das Unternehmen Marken dabei unterstützen, ihre Nachhaltigkeitsziele nicht nur zu erreichen, sondern zu übertreffen und sicherzustellen, dass ihre Produkte verantwortungsvoll beschafft, hergestellt und vermarktet werden.
In einer neuen Finanzierungsrunde hat sich Retraced gerade erst 15 Millionen Euro für die Weiterentwicklung des Unternehmens gesichert, angeführt von Investor Partech, einem der größten Tech-Investmentplattformen in Europa.
Philipp Mayer, Mitgründer und Chief Product Officer von Retraced, erzählt FashionUnited wofür er das Geld verwenden will, wo die Modebranche bei der Rückverfolgbarkeit ihrer Lieferkette steht und mit welchen Herausforderungen sie gerade konfrontiert ist.
Herr Mayer, Retraced hat gerade eine weitere Finanzierungsrunde erfolgreich abgeschlossen und 15 Millionen Euro eingesammelt. Wofür wollen Sie das Geld verwenden?
Wir sind bereits in Europa, in Asien und in den USA tätig und wollen international weiter wachsen, was schon deshalb Sinn macht, weil auch textile Lieferketten und Vertriebskanäle international sind. Außerdem investieren wir gerade stark in die Verwendung von KI. KI soll CSR-Teams und Lieferant:innen dabei helfen, mit den Unmengen von Daten und Informationen effizienter und besser umgehen zu können. Sie soll dabei unterstützen, die Einhaltung der Vorschriften zu erleichtern und gleichzeitig einen positiven Einfluss auf die Modeindustrie in Richtung mehr Nachhaltigkeit zu nehmen. Die neue Finanzierungsrunde ist eine schöne Bestätigung für uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Dabei steht die Modebranche gerade vor großen Herausforderungen. Wie offen sind die Brands aktuell für Investitionen in die Transparenz ihrer Lieferketten?
Wir merken im Vertrieb, dass die Gespräche länger dauern als vor ein bis zwei Jahren. Budgets werden gekürzt, obwohl die Brands jetzt eigentlich handeln müssten. Dies ist allerdings vor allem in Deutschland der Fall. In anderen Ländern investieren die Brands weiterhin in digitale Transformation und Innovation, um ihre Unternehmen zukunftsfähig aufzustellen.
Mehr Transparenz in der Lieferkette ist die Voraussetzung, um nachhaltiger werden zu können. Die aktuelle Kritik lautet aber, dass dieses Ziel bei all dem Datensammeln etwas aus den Augen verloren wird. Sehen Sie das auch?
Traceability ist in der Industrie derzeit ein großes Buzzword. Wenn große internationale Brands kommunizieren, dass sie Millionen von Artikeln zurückverfolgen, denken viele Brands, dass sie das auch können müssen. Dabei ist vielen nicht bewusst, was es bedeutet, all diese Daten wirklich auf Produkt-, beziehungsweise auf Bestellebene zu sammeln – vor allem für ihre Lieferant:innen. Hier auf der Veranstaltung (Anm. d. Red.: das Cascale Meeting in München) hat ein Lieferant geteilt, dass er pro Bestellung bis zu 15 Tage braucht, um alle Daten zu sammeln! Man sollte sich also immer zuerst fragen, welches Ziel man mit der Rückverfolgbarkeit verfolgt. Geht es nur darum, ein Mapping zu erstellen, um einen besseren Überblick zu haben und seinen Sorgfaltspflichten nachzukommen? Dies sollte natürlich jede Brand machen, was aber nicht bedeutet, dass gleich auf Produktebene getraced werden muss.
Um Brands hierbei zu unterstützen, haben wir gerade einen Guide zur Sorgfaltspflicht herausgegeben. Viele Brands wissen nicht, ob und wie sie von neuen Regelungen betroffen sind und müssen priorisieren, welche Schritte zuerst wichtig sind. Es ist gerade schwer, den Überblick zu behalten. Wir wollen es den Nachhaltigkeitsmanager:innen von großen und kleinen Unternehmen so einfach wie möglich machen, damit sie sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren können, nämlich Maßnahmen zu ergreifen, die ihre Lieferketten nachhaltig verbessern. Dabei soll künftig KI noch mehr helfen.
Sie schreiben in dem Guide auch, Sie wollen die rechtlichen Rahmenbedingungen „entmystifizieren“. Was meinen Sie damit?
Es gibt derzeit viel Fehlinformation in der Branche. Beispielsweise in Bezug auf den Digitalen Produktpass (DPP). Es ist noch nicht ganz klar, was dieser genau beinhalten wird: Erst im Juli 2026 werden die Rahmenbedingungen für den Teilbereich Textil definiert, und ein Jahr später treten sie in Kraft. Es dauert also noch gut zwei Jahre, bis wir genau wissen, welche Daten wie am Produkt kommuniziert werden müssen. Viele DPP-Anbieter:innen bauen jetzt schon viel Druck auf, was nicht unbedingt hilfreich ist. Wichtig ist allerdings, dass Modeunternehmen sich jetzt schon auf den Weg begeben, die richtige Infrastruktur aufzusetzen, damit sie dann, wenn es soweit ist, die entsprechenden Daten effizient einsammeln, managen und zu guter Letzt kommunizieren können. Deshalb ist Aufklärung wichtig.
Transparenz ist ein Schlüsselfaktor für die künftige Gesetzgebung. Wie weit ist die Branche?
Das ist unterschiedlich. Die Outdoor Brands haben beispielsweise schon sehr viel Sichtbarkeit auf Tier 1 und Tier 2 und pflegen oft auch sehr enge Beziehungen zu ihren Lieferant:innen. Außerdem sehen wir, dass Outdoor Brands die Daten umfangreicher nutzen, um Verbesserungen anzustoßen oder gemeinsam mit den Lieferanten neue umweltschonendere Materialien zu entwickeln. Discounter auf der anderen Seite haben in der Regel weniger direkte Lieferant:innenbeziehungen, sondern arbeiten mit Agenturen. Dort gibt es daher auch keine Sichtbarkeit in die Lieferkette und kaum einen Dialog, um Dinge zu verbessern. Die Verantwortung wird komplett an die Agentur abgegeben.
Insgesamt kann man sagen, dass die meisten Unternehmen überwiegend nur ihre direkten Lieferant:innen kennen, das sind dann in der Regel die Nähereien. Woher Stoffe und Zutaten kommen, wissen viele schon nicht mehr.
Modebrands und -händler:innen verkaufen inzwischen nicht nur Kleidung, sondern auch andere Kategorien, von Schmuck über Taschen bis hin zu Möbeln. Wie transparent sind die Lieferketten hier?
Wir haben bereits Kund:innen, die auch Hardgoods anbieten, beispielsweise die Outdoormarke Vaude, die ja auch Taschen und Zelte herstellt. Generell decken wir auch „anliegende“ Industrien mit ab, wie beispielsweise Schmuck und Taschen, damit die Brands nicht mit mehreren Tools arbeiten müssen. Bei Elektronik hört es aber auf. Wir wollen den Fokus auch nicht vergrößern, unsere Kompetenz liegt bei Bekleidung und Schuhen. Aufgrund von Skandalen und Tragödien in der näheren Vergangenheit hat die Modeindustrie sich bereits vor einigen Jahren auf den Weg gemacht, transparenter zu werden. Wir haben zwar weiterhin einen langen Weg vor uns, allerdings ist die Modeindustrie bereits etwas weiter als andere Industrien. Dies sehen wir vor allem daran, wie hoch die Ansprüche der Modeunternehmen an unsere Plattform und wie verhältnismäßig gering die Anforderungen an Lösungen in anderen Branchen sind.
Mit wie vielen Unternehmen arbeiten Sie zusammen, und in welchen Märkten sind Sie inzwischen tätig?
Insgesamt arbeiten wir auf unserer Plattform mit über 150 Brands und mehr als 15.000 Lieferanten. In Deutschland beispielsweise mit der S.Oliver, Marc O’Polo und Vaude, in den USA mit Victoria’s Secret, Neiman Marcus und Alexander Wang. Grundsätzlich kann man sagen, dass unsere Kund:innen sich in etwa vier gleich große Regionen aufteilen. Jeweils ein Viertel des Umsatzes kommt von Kund:innen aus Deutschland, aus Europa, aus Asien und aus den USA.
Gerade ist in Bangladesch die Lieferkette ins Wanken geraten. Hilft ihr Tool dabei, resilientere Lieferketten aufzubauen?
Ja, die Arbeit über unsere Plattform ermöglicht nicht nur dem Nachhaltigkeitsteam effizienter und effektiver zu arbeiten, sondern unterstützt auch den Einkauf, schneller zu reagieren. Das haben beispielsweise das Erdbeben in der Türkei oder die Überschwemmungen in Pakistan in den vergangenen zwei Jahren gezeigt. Einkäufer:innen konnten hier schnell die Fabriken auf Tier1 und Tier2 identifizieren, die von den Katastrophen betroffen waren und entsprechende Maßnahmen einleiten.
Wird man damit als Lieferant:in auch schneller austauschbar?
Wenn man keinen Added Value bieten kann, vielleicht ja. Die meisten Unternehmen in der Lieferkette haben allerdings eine Daseinsberechtigung und tragen ihren Teil zur Wertschöpfung bei. Mehr Transparenz wird diesen Unternehmen sicher kein Geschäft wegnehmen.
*SaaS: Software-as-a-Service