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Produktionsländer in der Pandemie: Die Situation ist schlimmer als vorher

Von Regina Henkel

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Business |HINTERGRUND

Ein Jahr Corona – ein Jahr Umsatzeinbußen und Planungsunsicherheit für Modeindustrie und -handel. Was macht das mit den Unternehmen in den Produktionsländern?

Wir erinnern uns: Kurz nach Ausbruch der Pandemie im März letzten Jahres wurde schnell sichtbar, dass die Pandemie nicht nur uns in Deutschland Umsätze und Arbeitsplätze kosten wird. Noch schlimmer traf es die Firmen in den Produktionsländern, deren Aufträge storniert oder auf die lange Bank geschoben wurden und die keine neuen Aufträge mehr erhielten. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter dort standen buchstäblich vor dem Nichts. Aus vielen Ländern kamen Hilferufe, eine Liste von Modeunternehmen, die ihre Zulieferer nicht bezahlten oder Aufträge stornierten, ging um die Welt. Und wie ist jetzt die Lage in der Supply Chain?

Das „neue Normal“?

Im Gegensatz zum Beginn der Pandemie ist es inzwischen ruhiger geworden. Aber die Stille täuscht. Nachrichten aus den Produktionsländern gibt es nach wie vor, aber sie entfalten nicht mehr die öffentlichkeitswirksame Sprengkraft, wie noch vor einem Jahr. Im Fokus stehen jetzt unsere heimischen Unternehmen, die aufgrund der anhaltenden Lockdowns selbst an den Rand des Ruins getrieben werden. „Ich war sehr positiv überrascht, wie schnell die Menschen zu Beginn der Pandemie darüber nachdachten, was die Situation für die Produktionsländer bedeutet“, sagt Alexander Kohnstamm, CEO der Fair Wear Foundation, die sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Mode-Supply Chain einsetzt. „Jetzt ist der Lockdown das „New Normal“, und damit schwindet offenbar auch die Aufmerksamkeit für die Probleme anderer.“

Bestandsaufnahme: Die Situation ist immer noch ernst

Denn die Situation in den Produktionsländern hat sich keineswegs entspannt. Allein im März gab es zahlreiche Meldungen von dort: In Thailand schloss eine Wäschefabrik ohne Vorankündigung und setzte 1.388 Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße. Sie erhielten weder eine Kündigung noch eine Abfindung, was nach thailändischem Arbeitsrecht illegal ist. Aus der Türkei mehren sich von Seiten der Industrieverbände die Beschwerden, dass große Modemarken Aufträge stornieren und jahrelange Partnerschaften über Nacht aufkündigen. Die Non-Profit-Organisation Business & Human Rights Resource Centre beschuldigt 16 große Modemarken, trotz Gewinnen 2020 fast 10.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in acht Fabriken nicht voll entlohnt zu haben. Mostafiz Uddin, einer der engagiertesten Fürsprecher der Bekleidungsindustrie in Bangladesch und selbst Denim-Produzent, richtete einen Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel, endlich die Geschäfte hierzulande wieder zu öffnen, weil davon „der Lebensunterhalt von Millionen von Bekleidungsarbeitern in den Entwicklungsländern wie Bangladesch abhängt“, schreibt Uddin. Die Enttäuschung in den Produktionsländern ist besonders groß, weil sich ausgerechnet die Firmen, die jahrelang mehr Verantwortung von ihren Zulieferern eingefordert haben, jetzt verantwortungslos verhalten.

Foto: Mostafiz Uddin

Schlechtere Situation als vorher

Zudem haben einige Länder ihre Gesetzeslage angepasst. „Einige Länder haben auf die Situation reagiert, indem sie ihre Gesetze geändert haben, um sich auf die Kostenreduzierung zu konzentrieren. Das ist schädlich, jetzt und auf lange Sicht“, erklärt Kohnstamm weiter. „In Indonesien beispielsweise dürfen nun Löhne unterhalb des Mindestlohns gezahlt werden und in Vietnam hat die Regierung die geplanten Mindestlohnerhöhungen verschoben. In Indien wurden Arbeitsgesetze reformiert, die es den Unternehmen leichter machen, ihre Arbeiter zu entlassen.“ Auch in Osteuropa trifft es die Unternehmen hart, so Kohnstamm. „Vielerorts ist die Situation jetzt schlimmer als vorher. Es ist klar geworden, dass die Arbeiter den Preis für die Covid-19-Krise zahlen.“ Hinzu kommt, dass es aufgrund der Pandemie viel schwieriger geworden sei, die Fabriken zu betreten, das gilt auch für Gewerkschaften. Über das Beschwerde-Tool konnte die Fair Wear dennoch den Kontakt zu den Arbeitern aufrecht halten. „Wir sehen jetzt, wie wichtig dieses unabhängige Tool ist“, so Kohnstamm.

Forderung nach Einrichtung eines Hilfsfonds

Um die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter in den Produktionsländern in solchen Situationen besser finanziell abzusichern, fordert die Kampagne #PayYourWorkers #RespectLabourRights, ein Zusammenschluss von rund 200 NGOs und Gewerkschaften aus 37 Ländern, die Einrichtung eines Abfindungsfonds. Marken und Handelsunternehmen sollen in den Fonds eine Gebühr einzahlen, die sich aus ihrem Einkaufsvolumen im jeweiligen Land berechnet, die Gebühren für die Arbeitgeber würden sich aus einem Prozentsatz der zu zahlenden Lohnsumme errechnen, so die Idee. „Entlassene Arbeiterinnen und Arbeiter, die keine Abfindung erhalten haben und in der Lieferkette einer Marke beziehungsweise bei einem Arbeitgeber beschäftigt waren, die das Abkommen zum Fonds unterzeichnet haben, können dann über einen Antrag eine Abfindungszahlung erhalten“, erklärt Fabienne Winkler, Vorständin der Kampagne für Saubere Kleidung in Deutschland. Der Fond soll keine Sozialversicherungssysteme ersetzen, aber ergänzen.

Lohnkosten sind nicht verhandelbar

Alexander Kohnstamm befürwortet die Idee eines Hilfsfonds grundsätzlich, auch wenn es bedauerlich sei, dass man einen solchen überhaupt brauche, sagt er. „Wenn die Menschen Existenzlöhne bekommen würden, könnten solche Notsituationen besser überbrückt werden. Auch starke nationale Sicherungssysteme wären eine echte Lösung, aber so lange das noch nicht in jedem Land der Fall ist, wäre ein nationaler Hilfsfonds eine gute Ad-hoc-Lösung.“ Vor allem aber wünscht er sich von Seiten der Modemarken ein verantwortungsbewussteres Verhalten. „Anstatt in einen Hilfsfonds zu zahlen, wäre mir grundsätzlich lieber, die Firmen würden die Fabriken nicht so auspressen. Man kann über alles verhandeln, aber nicht über die Lohnkosten.“ Wie sich die Marken in der Krise verhalten haben, wird die Fair Wear in den kommenden Brand Performance Checks prüfen. Dann wird es auch ein spezielles Covid-Assessment geben. Es ist davon auszugehen, dass die Mitglieder der Fair Wear eher nicht zu den schwarzen Schafen der Branche gehören. Kohnstamm: „Die Krise hat gezeigt, dass starke Partnerschaften auch für die Marken von Vorteil waren. Diese Marken sind stärker und widerstandsfähiger als jene, die nur sehr kurzfristig denken und CSR als ein ‘nice to have’ sehen.“

Titelbild: Denim Expert Bangladesch

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