• Home
  • Nachrichten
  • Business
  • Lesetipp: Inside Shein – Eine investigative Recherche über das System des Fast-Fashion-Riesen

Lesetipp: Inside Shein – Eine investigative Recherche über das System des Fast-Fashion-Riesen

Von Regina Henkel

Wird geladen...

Scroll down to read more
Business
Pop-up Shop von Shein in Marseille, Oktober 2024. Credits: Shein

Das System des chinesischen Ultra-Fast-Fashion-Anbieters Shein ist ebenso erfolgreich wie umstritten. Im Auftrag der Schweizer Zeitschrift „Reportagen” ist die chinesische Investigativjournalistin Yinmi Yao nach China gereist, um herauszufinden, wie das System von Shein funktioniert und wie die Mitarbeitenden das Unternehmen erleben.

In ihrer Reportage „China - Instant Fashion für die Welt: die Shein-Maschine“ erzählt sie in der Mai-Ausgabe des Magazins Reportagen über die Erfahrungen von rund 30 ehemaligen Shein-Mitarbeitenden, die sie für ihre Recherchen befragt hat. Sie wurde über deren Kommentare zu Shein in den sozialen Medien auf sie aufmerksam und konnte sie für Interviews gewinnen. Eine offizielle Möglichkeit, mit Shein über dessen Arbeitsweisen zu sprechen, hat das Unternehmen abgelehnt.

„Letzter Strohhalm“ für die Textilproduktion in China

Yao beschreibt, wie Shein ursprünglich 2013 gar nicht als Mode-, sondern als IT-Unternehmen und Suchmaschine gestartet ist. Erst Jahre später erkannte das Unternehmen, dass es seine Erkenntnisse über weltweite Trends mithilfe der neuen Möglichkeiten von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz selbst in Produkte umsetzen und dabei enorme Effizienzsteigerungen bei der Modeproduktion in China ermöglichen könnte. Mit seinem Hauptsitz in Guangzhou, dem langjährigen Mekka der Modeproduktion in China, konnte Shein auf eine Vielzahl von Produktionsstätten vor Ort zurückgreifen. Zudem profitierte es davon, dass die goldenen Jahre der Textilproduktion in China aufgrund gestiegener Grundstückspreise und Arbeitslöhne allmählich zu Ende gingen und viele Unternehmen schrittweise nach Südostasien verlagert wurden. Die kleinen Fabriken, die nicht auswandern wollten, suchten daher händeringend nach neuen Auftraggebenden. Yao schreibt: „Der rasante Aufstieg und die Expansion von Shein sind ein letzter Strohhalm, der die Werke in Fabrikagglomerationen wie Tangbu West Village am Leben erhält.“

Beauftragung der Fabriken erfolgt vollautomatisch

Alle Shein-Fabriken sind an das Shein-System angeschlossen und produzieren zum Teil ausschließlich für den Fast-Fashion-Riesen. „Welche Aufträge den einzelnen Fabriken zugewiesen werden, welche Fristen gesetzt werden, wie alles im Detail abläuft – alles wird von Software entschieden. Wenn eine Fabrik eine Kooperationsvereinbarung mit Shein unterzeichnet, bemisst das System den ersten Auftrag anhand der zur Verfügung stehenden Lastwagen und Arbeiter:innen sowie vergleichbarer Lieferungen. Je schneller und besser der Auftrag erledigt wird, desto besser sind die nächsten Aufträge; je mehr Verzögerungen und Qualitätsmängel, desto mehr Strafen werden verhängt. Geht ein neuer Auftrag ein, filtert die Software die am besten geeignete Fabrik heraus, um die Aufgabe zuzuweisen“, so Yao weiter.

Immenses Tempo bei der datenbasierten Produktentwicklung

Das Design neuer Produkte erfolgt ähnlich automatisiert und in einem enormen Tempo. „Im ersten Monat musste Lucy Nr.  2 [Fünf der Befragten gaben sich den Namen Lucy, daher die Nummerierung] neunzig neue Modelle entwickeln und Entwurfszeichnungen anfertigen, bei der Klärung von Urheberrechten mitarbeiten, Mustervorlagen bestätigen und Fotoshootings auswählen. Damals konnte sie es sich noch leisten, um 10 Uhr im Büro zu erscheinen und es pünktlich um 18  Uhr zu verlassen. Einen Monat später wurden aus 90 Modellen 200. Nach weiteren zwei Wochen waren aus den 200 Modellen 386 geworden“, beschreibt Yao den Prozess der Produktentwicklung. Etwa 5.000 neue Designs gehen bei Shein pro Tag in Produktion, zunächst nur als Kleinserie von 100 Stück, aber wenn sich die Produkte gut verkaufen, wird nachgelegt.

Urheberrechtsverletzungen werden automatisch geprüft

Da sich Shein fast ausschließlich auf aktuelle Fashion-Trends und Bestseller-Produkte anderer Hersteller stützt, ist die Gefahr von Urheberrechtsklagen groß. Daher gibt es eine eigene Abteilung, die sich nur mit diesem Thema beschäftigt. Auch hier hilft die Software mit. Yao schreibt über Lucy Nr. 1, die in dieser Abteilung beschäftigt war: „Das System markiert vorab Elemente, die möglicherweise ein Urheberrecht verletzen. Beispielsweise ein T-Shirt mit einem Muster, das zu 85 Prozent einem Gucci-Logo ähnelt. Das letzte Urteil darüber trifft aber, weil zuverlässiger, ein Mensch […]. Die Liste der Elemente, die ein Urheberrecht verletzen, umfasste bei ihrem Eintritt in das Unternehmen etwa 10.000 Einträge. 14 Monate später sind es bereits 70.000. Sie machen Sheins einzigartige Datenbank aus, in der sämtliche Erfahrungen gespeichert sind.“

Aufgrund dieser Informationen nehmen die Designer:innen leichte Veränderungen vor, um keine Urheberrechte zu verletzen. „Es geht bei dieser Tätigkeit darum, ein Gleichgewicht zwischen Geschwindigkeit und Risiko zu finden. Nichts darf schiefgehen, aber die Überprüfung darf auch nicht zu streng sein, sonst verlangsamt sich das Tempo.“ Rund 800 Produkte hatte die Mitarbeiterin, mit der Yao gesprochen hatte, an einem normalen Tag zu prüfen. Doch es konnten auch mehr sein.

Zusammenfassend beschreibt die Journalistin anhand ihrer Interviews mit ehemaligen Mitarbeitenden ein System, in der die Digitalisierung, Automatisierung und Kosteneffizienz in der Bekleidungsproduktion auf eine neue Stufe gehoben wurde. Kollektionsaufbau, Kreativität und Innovation spielen keine Rolle mehr, weil über das Internet in Echtzeit ausgewertet wird, welche Produkte Modekund:innen weltweit gerade kaufen wollen. In dem Moment ist allein der Faktor Zeit entscheidend, um die gewünschten Produkte so schnell wie möglich auf den Markt zu werfen. Dass sie darüber hinaus auch noch unschlagbar günstig sind, erhöht ihre Attraktivität zusätzlich.

Der Artikel „China - Instant Fashion für die Welt: die Shein-Maschine“ von Yinmi Yao erschien im Magazin Reportagen #82. Die Ausgabe ist als Printausgabe im Verlag Puntas Reportagen in Bern sowie auf reportagen.com erhältlich.

Lesen Sie auch:

Shein unter Druck: EU-Kommission fordert Einhaltung des Verbraucherschutzes

Shein dominiert den Bekleidungsmarkt 2024 trotz wirtschaftlicher Herausforderungen

Europäische Verbraucher:innenorganisationen beschweren sich: Shein darauf ausgelegt, süchtig zu machen

Fast fashion
Lesetipp
Shein